Akantha
Mit Katharina von Aragón, der ersten seiner sechs Ehefrauen, beginnt Alison Weir ihre biografische Reihe über die Gemahlinnen von Henry VIII. Insgesamt umspannt die Geschichte die Jahre 1501 (Ankunft Katharinas in England) bis 1536 (Jahr ihres Todes). Katharina gelangt nach England um den Thronerben Prince Arthur zu heiraten. Dieser verstirbt jedoch kurz darauf, sodass sie im Anschluss seinen Bruder, Prince Henry, ehelicht. Die innige Liebe der beiden verblasst jedoch bald, denn Henry wird besessen von dem Gedanken an einen männlichen Nachfolger. Er wendet sich ihrer Hofdame Anne Boleyn zu. Für Katharina beginnt ein Kampf um Ehre, Würde, Respekt sowie ihr Leben und das ihrer Tochter. Das Buch gliedert sich in drei Teile: „Die Prinzessin aus Spanien“, „Die Königin von England“ und „Die wahre Königin“. Letzteres ist zugleich der Nebentitel dieses Bandes und könnte einen Hinweis auf die persönliche Einschätzung der Autorin geben. Doch während man darüber nur spekulieren kann, wird auf jeder einzelnen Seite klar, dass Katharina selbst zu keinem Zeitpunkt bereit war, davon abzurücken, dass sie selbst die einzige, die wahre, Königin von England ist. Besonders relevant wird das in den Jahren ab 1527, in denen Henry VIII. den Papst um Annullierung seiner Ehe ersucht. Dies war zwar mein erstes Buch von Alison Weir aber nicht ihr erstes veröffentlichtes Werk. Sie ist Mitglied der Royal Society of Arts and Science und hat zahlreiche historische Sachbücher und Romane veröffentlicht. Ihr Schreibstil hat mir gut gefallen. Sie drückt sich klar aus, leicht verständlich, ohne zu viel mittelalterliches Vokabular oder künstlich wirkende Dialoge. Viele zitierte Briefe und Gespräche sind authentisch mit einer leichten Anpassung der Sprache an unsere heutigen Ausdrücke. Diese realen Worte sind vielfach schockierender, als sie die Fantasie hervorbringen könnte. Nie habe ich die Ungerechtigkeit, die Katharina von Aragón widerfahren ist, so intensiv empfunden, wie durch die Briefe und Unterhaltungen, die Alison Weir hier verarbeitet hat. Ein grundsätzliches Problem in historischen Romanen ist, dass es viele auftretende Charaktere gibt, die sich jedoch nur eine handvoll Vornamen teilen. Die Autorin hat allerdings einen guten Mittelweg gefunden, die Leser/innen nie im Unklaren zu lassen, wer gemeint ist, gleichzeitig aber unnötige Wiederholungen zu vermeiden. Besonders positiv aufgefallen ist mir zudem, wie genau Alison Weir in den letzten Kapiteln abgewogen hat, was Katharina vom englischen Hof und der restlichen Welt erfahren konnte (und auf welche Art) und was nicht. Diese Differenzierung ist nicht nur für eine authentische Situationsbeschreibung notwendig, sie macht die Leser/innen, die mit der Historie nicht so vertraut sind, zudem immer neugierig auf die nächsten Mitteilungen, die Katharina erreichen, oder gar auf den zweiten Band der Reihe, in dem Anne Boleyns Perspektive einige offene Fragen klären wird. Meine einzige Kritik ist, dass das Buch in der Mitte ein paar Längen hat. Zwischendurch hatte ich den Eindruck, dass jeder einzelne von Katharinas Briefen denselben Wortlaut hatte, jede Delegation dieselben Nachrichten überbracht hat und Geschichten oder Skandale der Nebencharaktere in Katharinas Hofstaat zu detailliert behandelt wurden. Das nimmt für mich in der Mitte zu viel Tempo raus. Mit dem Wissen von heute lassen wir uns schnell zu der Aussage hinreißen, wie viel leichter (und vielleicht sogar länger?) Katharinas Leben gewesen wäre, wenn sie sich Henrys Wünschen gefügt hätte. Durch Alison Weir habe ich allerdings das erste Mal einen so tiefen Einblick in Katharinas Gedanken und Gefühle erhalten, dass ich verstehen konnte, wieso sie nicht diesen leichten Weg gewählt hat. Vielmehr erscheint mir ihr tatsächliches Verhalten nun wie der einzig logische und für sie sinnvolle Weg. Wenn ein/e Autor/in durch einen historischen Roman dieses Verständnis für mehrere hunderte Jahre alte Handlungen wecken kann, ist wirklich von einer außerordentlichen Leistung zu sprechen. Für mich trat außerdem ein ganz neuer Aspekt in Erscheinung: Nie habe ich mir allzu intensive Gedanken dazu gemacht, wie Prinzessin Mary (die spätere Königin Mary I.) unter dem mehrere Jahre andauernden Prozess der Scheidung, „Des Königs große Sache“, gelitten hat. Katharinas Sorgen und Gedanken um ihre Tochter, deren Status auch eines von Katharinas treibenden Motiven war, haben mir geholfen, Zugang zu diesem Thema zu finden. Häufig sieht man im Vordergrund Katharinas Leid, doch der gesamte Prozess hatte auch in Mary ein unschuldiges Opfer. Dieser Einblick erzeugt ganz neues Verständnis für ihren späteren Herrschaftsstil – keine Rechtfertigung oder gar Akzeptanz, aber er scheint nicht mehr so verwunderlich. Zuletzt ist auch die Ausstattung des Romans zu loben. Es beginnt mit Stammtafel der Häuser Tudor und Trastámara, die beide auf Edward III. zurückzuführen sind. Wenn ich so etwas in historischen Romanen vorfinde, geht mir direkt das Herz auf. Zwingend notwendig für das Verständnis der Handlung sind diese hier allerdings nicht. Die Geschichte endet mit einem kurzen Nachwort der Autorin, dem ich die Angaben zur Authentizität von Briefen und Dialogen für meine Rezension entnommen habe. Dies ist mir ebenfalls sehr wichtig, um Fakt und Fiktion zu unterscheiden, denn mit jedem historischen Roman lernt man auch etwas – wenn man bereit dazu ist. Darauf folgt ein sehr umfangreiches Personenverzeichnis, in welchem die Charaktere nach ihrem erstmaligen Auftreten angeordnet sind. Diese Ordnung empfinde ich als nicht hilfreich, denn gerade bei Nebencharakteren können Leser/innen auf knapp 900 Seiten sehr leicht vergessen, wann diese erstmals in Erscheinung traten. Eine alphabetische Sortierung wäre einfacher in der Handhabung und erfüllt viel mehr ihren Zweck. Interessant für eine abschließende Rekapitulation des Geschehens ist die Zeittafel, die zum Schluss die wichtigsten Ereignisse nochmal wiedergibt. Hätte ich einen Wunsch bezüglich der Ausstattung frei, wäre es eine Landkarte, auf der die ganzen Paläste eingetragen sind, zwischen denen Henry und Katharina beständig wechseln. Zusammenfassend komme ich zu 4 von 5 Sternen. Ich bin dankbar für die neuen Blickwinkel und das Verständnis, das Alison Weir in mir geweckt hat. Lediglich die Längen in der Mitte haben den Lesegenuss getrübt. Auch wenn ich schon viel über diese Epoche und Henry VIII. gelesen habe, habe ich wieder völlig neue Aspekte von Katharina von Aragón entdeckt und andere Seiten von ihr kennen gelernt. Umso gespannter bin ich auf den nächsten Band der Reihe, „Anne Boleyn – Die Mutter der Königin“ (ET 02.11.2020). So sehr ich aktuell gegen diese Königin eingenommen bin, umso interessierter bin ich, was sich hinter dem äußeren Anschein verbirgt, was ich Neues über sie lernen kann und ob mir Alison Weir nicht doch ungeahnte Sympathien für diese umstrittene Persönlichkeit entlocken kann.