Profilbild von Oneofthefoxes

Oneofthefoxes

Posted on 16.7.2020

Ich habe Ronen Steinkes Buch manches Mal fassungslos gelesen, vor allem ob der Fülle an Material das er zusammengetragen hat und das auch für mich sehr Augen öffnend war. Und das, obwohl ich mich selbst seit Jahren auch mit Rechtsextremismus seit 1945 beschäftige, und obwohl ich der Meinung bin, mich daher allgemein ganz gut aus zu kennen. Gleichzeitig ist es sehr gut und treffend geschrieben. Der Autor hat ein Talent dafür, Zusammenhänge sehr gut zu erklären und Probleme ohne viel Fehler lesen auf den Punkt zu bringen. Ich fand es war, trotz des sachlichen Tons, einfach gut zu lesen. Ich flog gerade zu durch die Seiten. Es gibt Bücher, von denen ich mir gewünscht hätte, dass niemand sie schreiben müsste, weil die Thematik darin kein Problem unserer Gesellschaft darstellt. Doch wie Ronen Steinke zeigt, ist sein Buch leider bittere Realität, der wir uns in unserem Land stellen müssen. Ich hätte nie gedacht, dass sich Juden und Jüdinnen in Deutschland einmal wieder die Frage stellen, ob sie in Deutschland noch sicher sind. Einerseits war mir klar, dass der Antisemitismus in Deutschland auch nach 1945 immer eine Rolle gespielt hat und wir uns als Deutsche ohne jüdischen Hintergrund gerne darauf zurückziehen, das die BRD ja nun andere Werte vertritt, als es zur Zeit der NS Diktatur der Fall war. Steinkes Buch zeigt uns aber, z. B. in einer Auflistung von in etwa 100 Seiten aller antisemitisch motivierter Straftaten seit 1945, wie es in Deutschland wirklich aussieht. Und dass es eine Illusion ist, zu glauben, dass Antisemitismus eine verschwindend geringe Rolle gespielt hätte. Der Anschlag in Halle, den Steinke hier auch sehr zentral behandelt, ist kein Einzelfall, der mal eben so „passiert“ ist. Die Wahrheit ist, der Anschlag reiht sich ein und es gibt Kontinuitäten von Antisemitismus in Deutschland nach 1945. Erschreckend und leider auch allzu bekannt, wie etwa nach dem Mord an Shlomo Lewin und Frieda Poeschke, statt im rechten Milieu – die Zentrale der sogenannten Wehrsportgruppe Hoffmann (einigen vielleicht auch im Zusammenhang mit dem Attentat auf das Oktoberfest bekannt) war ganz in der Nähe! – wurde doch tatsächlich sogar der Mossad verdächtigt, und auch andere im nahen jüdischen Umfeld der ermordeten. Kommt uns das bekannt vor??? Genau, die Opfer der NSU fast 30 Jahre später wurden genauso diesem Victim Blaming ausgesetzt. Das ist nicht nur erschreckend, sondern zeigt leider im hohen Maße, wie wenig sich strukturell und im Denkmechanismus der Polizei, seit damals unverändert geblieben ist. Und ja, auf dem rechten Auge ist man also blind geblieben. Die Zuschreibung an Juden in Deutschland ist nach wie vor die der fremd Gebliebenen, nicht der deutschen, sondern der Juden. Als ob Juden in Deutschland etwas Exotisches seien, etwas das eigentlich eine Parallelgesellschaft bildet statt zur Gesellschaft dazu zu gehören. Statt einen Aufschrei gegen Antisemitismus in Deutschland zu erleben, werden nach Lewins Mord Juden und Jüdinnen aus dem Umfeld als Verdächtige befragt. Es entsteht keine breite Diskussion gegen Antisemitismus. Und wenn ich mir anschaue, was in halle passiert ist, was während der NSU Prozesse passiert ist… Eigentlich haben wir diese Diskussion noch immer nicht. Nicht wirklich. Und genau das legt Steinke schonungslos offen. Übrigens, der Mörder war tatsächlich ein Mitglied der besagten Wehrsportgruppe …Tatsächlich wird sogar noch 10 Jahre danach, in vielen Zeitungen kein Wort, über den antisemitischen Hintergrund der Tat geschrieben, geschweige denn eine Debatte über Rechtsradikalismus in Deutschland geführt. Und das in einem Land, das ausdrücklich Juden zu sich eingeladen hat, als die Sowjetunion zusammengebrochen ist und auch viele Juden und Jüdinnen daraufhin nach Deutschland kamen. Ich kenne selbst einige deren Eltern so in die BRD eingewandert sind. Ich kenne Juden und Jüdinnen, die mir auch ganz persönlich schon von ihren Erfahrungen und Gefühlen erzählt haben.Ich habe erst vor kurzem Fotos von frischen Schmierereien an einer Hauswand gesehen. Ich war mir zugegebenen Maßen, nicht immer sicher, wie ich das einschätzen sollte. Aber Steinke hat durch seine Darstellung noch mal gezeigt, wie es in Deutschland eben wirklich aussieht und das nicht erst seit Halle eine zunehmende Beunruhigung unserer jüdischen Mitbürger*innen nicht nur verständlich, sondern leider auch angebracht ist. Für viele auch von außen erscheint es ja normal, das Juden und Jüdinnen in Deutschland nur unter besonderen Schutzmaßnahmen in die Synagoge oder in jüdische Schulen gehen können. Ich arbeite in einer jüdischen Einrichtung und ohne Wachpersonal und Taschenkontrollen, ohne Polizeischutz z. B. nach Mordanschlägen wie in Halle, kenne ich es auch selbst nicht. Ich bin keine Jüdin, aber auch mir ist klar: Es kann nicht normal sein, das Menschen Angst haben müssen, wenn sie zur Ausübung ihrer Religion, ihrer Tradition(en) an bestimmte Orte reisen möchten. Es ist nicht normal, wenn ein Kind in der Schule durch eine Sicherheitsschleuse muss und Wachmänner zur Normalität von Grundschüler*innen gehören. Es ist nicht normal, wenn schon Kindergartenkinder Angst haben, weil das Gebäude mit Hakenkreuzen und Nazi-Parolen beschmiert wurde. Es ist nicht normal, wenn Du schon als Kleinkind weißt, wie eine Sicherheitskamera aussieht und eine Terrorübung funktioniert. Und wenn sich Interviewpartner*innen dann wünschen, dass man ihre Namen lieber verfremdet, weil es in Steinkes Buch um Antisemitismus geht und sie Angst haben, das sie sonst Opfer von antisemitischen Angriffen werden könnte. Sicher ist sicher… Und das nicht irgendwo auf der Welt, sondern in Deutschland, dem Land, das für seine Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Erinnerungskultur international gelobt wird. Aber auch dem Land das im Grunde auf dem rechten Auge blind geblieben ist… Tatsache ist auch, dass Steinkes Buch leider sehr genau offen legt, das Deutschland und der Antisemitismus nur schwer voneinander lösbar sind und das viel zu wenig dafür getan wird, das sich hier wirklich etwas ändert. Er deckt auch schonungslos auf, dass die Sprache, vom berühmten Einzeltäter, das dahinterstehende gesellschaftliche Problem verdeckt. Antisemitismus ist salonfähig geblieben, und das verdeutlichen die Bewertungen von Straftaten als nicht antisemitisch, obwohl sie es eigentlich sind. Ein Beispiel. Die Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann sind tatsächlich als Einzeltäter verfolgt worden, obwohl man die Zugehörigkeit zur Gruppe nachweislich bestehen! Die Querverbindungen wurden ignoriert. Linker Antisemitismus wird dabei übrigens kaum anders behandelt als rechter. Man könnte auch sagen, die Justiz windet sich, das Problem beim Namen zu nennen. Leider führt das oftmals dazu, dass viele solche Straftaten inzwischen gar nicht erst anzeigen, weil sie resigniert dem deutschen Rechtsstaat in der Hinsicht nicht mehr vertrauen. Steinkes Fokus liegt zwar auf Deutschland, dennoch zieht er auch immer mal Querverbindungen zu anderen Ländern und dem globalen Antisemitismus. Tatsächlich wäre es auch interessant, hier noch mehr zu erfahren. Letztendlich gibt es in Deutschland zwar jüdisches Leben, aber ein angst freies jüdisches Leben 2020 noch immer nicht, und dieser für Deutschland sehr unangenehmen Wahrheit müssen wir uns alle stellen. Am Ende zählt Steinke vier doch ernüchternde Lösungsansätze auf, wie man mit antisemitischen Straftaten als Staat umgehen soll. Ich hätte erwartet, das längst vieles bedacht wird. In was für einem Land wollen wir Leben? Das ist letztendlich die Frage. Wir alle sind gefordert, wenn Rassismus und Antisemitismus in unserer Gesellschaft keinen Platz haben sollen. Wir sind aber auch alle gefragt, wenn es darum geht, das der Staat diese Werte auch vertritt. Steinkes Buch ist Anstoß für eine wichtige Debatte und Anklage zugleich. Für mich persönlich eines der wichtigsten Bücher in diesem Jahr.

zurück nach oben