Bris Buchstoff
Micah Mortimer liebt die Regelmäßigkeit, die sein Leben strukturiert. Im Gegensatz zu vielen anderen Zeitgenossen, empfindet er keine Eintönigkeit dabei, jeden Morgen pünktlich um viertel nach sieben zu seiner Joggingrunde aufzubrechen, danach unter die Dusche zu springen und ein täglich gleiches Frühstück einzunehmen. Sein Auskommen bestreitet er zur Hälfte mit seinem kleinen Unternehmen, das Tech-Eremit heißt, sein Spitzname aus Unizeiten, und in dessen Rahmen er Menschen mit Computerproblemen hilft. Die andere Hälfte besteht aus einem Hausmeisterjob, dort wo er selbst wohnt. Er liebt es, wenn seine Pläne nicht durchkreuzt werden. Die Beziehung zu seiner Freundin Cass ist gefestigt. Vielleicht ein wenig zu sehr, denn als sie fast aus ihrer Mietwohnung ausziehen muss, gerät alles ein wenig aus dem Gleichgewicht. Zunächst ist er ratlos und nimmt den Lauf der Dinge wie immer einfach hin, doch dann taucht auch noch ein junger Mann auf, der einen Stein ins Rollen bringt, der letztendlich alles verändert und Micah Mortimers Leben einen anderen Drive geben wird … Anne Tyler ist eine Meisterin der Beobachtung und der eher unauffälligen, leisen Töne. Nichts destotrotz packt sie immer wieder gerade zwischenmenschliche Themen an, die uns allen sehr bekannt sind und beleuchtet diese aus den verschiedensten Blickwinkeln. Das tut sie stets warmherzig, klug und niemals wertend. Dabei findet sie immer genau den richtigen Ton für ihre Figuren und schafft somit wunderbare Dialoge. Genau deshalb liebe ich ihre Romane so sehr. Begonnen hat diese Liebe tatsächlich bereits 1985, als ich meinen ersten Anne Tyler Roman, „Die Reisen des Mister Leary“ las. Was Tyler hier machte, war anders, als das was ich sonst so las. Es war klug, witzig, trotz der Tiefe des Themas – immerhin ging es um das Zerbrechen einer Familie – und zutiefst tröstlich. Zumindest empfand ich das so. Weitere Romane folgten und immer las ich sie gerne. Der Roman, der mich bisher am meisten beeindruckt hat aber ist „Der blaue Faden“ – wiederum eine Familiengeschichte, die zeigt, wie lückenhaft unser Verständnis oder unser Wissen über Beziehungen sein kann. Familie, Beziehungen, Verschrobenheiten einzelner Personen – das sind die Themen Tylers, die sie jedes mal neu, anders und mit feiner, psychologischer Klarsicht ins Zentrum ihrer Geschichten stellt. Micah Mortimer ist eine Person, wie sie jederzeit überall zu finden ist und dennoch wirkt nichts an Anne Tylers Roman beliebig oder vorhersehbar. Micah, der aus einer für ihn sehr chaotischen Familie stammt, braucht das Gefühl, alles im Griff zu haben, andererseits ist er nicht so verkrampft, dass er unbedingt in einem Angestelltenverhältnis arbeiten muss. Er hat selbst ein Buch mit dem Titel „Erst mal den Stecker rein“ geschrieben, das Computernutzern hilfreiche Tipps gibt. Darüberhinaus ist er als Tech-Eremit häufig der Retter für vielfältige Probleme. Zuverlässig, pünktlich, selbständig und unabhängig ist er und dennoch klappt es mit den Frauen nie so richtig. Vor allem ist ihm nicht klar, weshalb nicht. Doch wie das eben mit Perspektiven so ist, es muss erst eine Person aus seinem früheren Umfeld kommen, die ihm erklärt, wie unterschiedlich Situationen oder Handlungen wahrgenommen werden und aufzeigt, dass man nicht umhin kommt, Fehler zu machen, wenn man wirlich leben will. Anne Tyler ist mit „Der Sinn des Ganzen“ erneut ein wunderbarer Roman gelungen, der sich leichtfüßig liest, obwohl er im Grunde kein einfaches Thema zum Inhalt hat: die Angst Fehler zu machen. Diese Angst teilen viele Menschen und lähmt sie, schränkt sie in ihrem Leben ein, nimmt Freiheit und Glück. Fehler machen zu dürfen, ist doch das Salz in der Suppe des Lebens – ohne sie gibt es keine Entwicklung und somit nur Stagnation und wenige Glücksgefühle. Anne Tyler hat das klar erkannt und gibt das nicht nur an uns Leser*innen weiter. Auch ihren Figuren ermöglicht sie diese Erkenntnis. Es ist nicht schlimm, wenn man Fehler macht. Schlimm wäre es, nicht zu ihnen zu stehen oder vor lauter Angst nichts mehr zu tun. Was aber sicherlich kein Fehler ist, ist sich für die Lektüre dieses kleinen aber feinen Romans zu entscheiden!