Schattenwege
Meine Welt liegt in Schutt und Asche. Ich sitze auf meinem Bett, inmitten der Trümmer, und starre auf den Fernseher. Ich bin eine offene Wunde. Ich bin der Geruch von rohem Fleisch. Ich klaffe weit auf. Es blitzt in meinem Kopf, schmerzhaft und gleißend hell. Mein Gesichtsfeld färbt sich rot, ich greife mir ans Herz, mir schwindelt, mein Bewusstsein flackert, ich weiß, was das ist, dieses rohe, rote Gefühl, ich habe eine Panikattacke, ich hyperventiliere, gleich werde ich ohnmächtig, hoffentlich werde ich ohnmächtig. Dieses Bild, dieses Gesicht, ich ertrage es nicht. (Seite 10/11) Seit dem Mord an ihrer Schwester hat sich Linda komplett eingeigelt und setzt keinen Fuß mehr vor die Tür – nicht mal in ihren eigenen Garten, um mit ihrem Hund eine Runde zu drehen. Zu viel Angst hat sie vor dem, was dort draußen in der Welt auf sie warten könnte, was ihr zustoßen könnte. Nur in ihren eigenen vier Wänden ist sie sicher, und die darf auch nur ihre Assistentin betreten. Nicht einmal der Gärtner hat Zugang zum Haus – denn an jeder Ecke lauert die Gefahr. Doch dann, eines Tages, ist Linda sich sicher, den Mörder ihrer Schwester im Fernsehen erkannt zu haben. Erst begreift sie es nicht so ganz, doch dann entsteht in ihrem Kopf nach und nach ein Plan – sie möchte diesen Mann zur Strecke bringen. Er soll dafür bestraft werden, was er ihrer armen Schwester angetan hat. Linda wird ihm eine Falle stellen, und der Köder dafür wird sie selbst sein – denn der Mörder ist ein erfolgreicher Journalist, und was würde wohl mehr locken als ein Interview mit einer Autorin, die seit mehr als einem Jahrzehnt völlig isoliert lebt? Ja, ich habe Angst. Aber wenn ich in den letzten Wochen und Monaten etwas gelernt habe, dann das: Angst ist kein Grund, etwas nicht zu tun. Ganz im Gegenteil. (Seite 282/283) Von vielen Seiten in den höchsten Tönen gelobt, kann sich "Die Falle" als herausragendes Debüt betrachten. Tatsächlich schafft Melanie Raabe es, den Leser mit ihrer interessanten Hintergrundidee auf jeden Fall neugierig zu machen. Vor allem in der ersten Hälfte des Buches, das keinen klassischen Thriller darstellt, aber durchaus für spannende Atmosphäre sorgen kann, fällt es schwer, nicht durch die Seiten zu hetzen. Auch wenn bereits hier einige Fragen offen bleiben, blättert man so schnell wie möglich weiter – bis zu der Stelle, an der das Interview stattfindet und sich eigentlich alles auflösen sollte. Doch genau an diesem Punkt, der im Grunde das Ende der Geschichte darstellen sollte, wartet die Autorin mit einer überraschenden Wendung auf. Möglicherweise nicht ganz unerwartet, vielleicht auch nicht einmal dringend notwendig, eventuell sogar komplett überflüssig – das liegt wohl im Auge des einzelnen Lesers. Fakt ist aber, dass sich mit dieser Wendung die ganze Story noch einmal zu drehen scheint und mit einem Mal nichts mehr so ist, wie es sich darzustellen versuchte. Die Menschen glauben, dass es schwer ist, über ein Jahrzehnt lang das Haus nicht zu verlassen. Sie denken, dass es leicht ist, aus dem Haus zu gehen. Und sie haben recht, es ist leicht, aus dem Haus zu gehen. Aber es ist auch leicht, es nicht zu tun. Aus ein paar Tagen werden schnell ein paar Wochen. Aus ein paar Wochen werden Monate und Jahre, und das klingt lang, gewaltig lang, aber es ist doch immer nur ein weiterer Tag, der sich an den letzten reiht. (Seite 296) Das an sich spannende Grundsetting, gepaart mit einer speziellen Protagonistin und einem nicht ganz unsympathischen Gegendarsteller, wirkt auf den ersten Blick wie die perfekte Kombination für einen Thriller, der nicht einmal blutig sein muss, um unterhaltsam zu sein. "Die Falle" ist eher ruhig gehalten, kommt fast gänzlich ohne Gewalt aus und lässt sich recht flott lesen. Doch was in der groben Zusammenfassung nach einem passenden Gesamtpaket klingt, zeigt bei genauerem Hinsehen diverse Schwäche auf. Nicht spoilerfreie Logik- oder auch Denkfehler werfen des Öfteren Fragen auf, mehrfache Wiederholungen von nichtigen Tatsachen lassen den Leser gelegentlich mit den Augen rollen und vor allem in der zweiten Hälfte häufen sich die Momente, in denen man sich beinahe wünscht, Melanie Raabe hätte den einen oder anderen Überraschungseffekt besser ausgelassen, um die Story nicht grundlos wie eine zähe Kaugummimasse in die Länge zu ziehen. Dass ihr schriftstellerisches Talent unverkennbar ist, lässt sich nicht bestreiten. Nur wirkt es in diesem Debüt leider so manches Mal überstrapaziert und übergewollt. Fazit: Mit ihrem Debüt lässt Melanie Raabe den Leser sehr zwiegespalten zurück. Denn einerseits bietet "Die Falle" ein unglaublich interessantes und spannendes Grundsetting, andererseits brechen Logikfehler, unnötige Wiederholungen und überflüssige Wendungen tiefe Narben in das Lesevergnügen. Ohne Frage ist diese Geschichte gut durchdacht – vielleicht ein bisschen zu gut und damit zu sehr gewollt. Wertung: 3,5 von 5 Sternen Handlung: 3.5 / 5 Charaktere: 4 / 5 Lesespaß: 3 / 5 Preis/Leistung: 3 / 5