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Babscha

Posted on 8.7.2020

Bücher haben unglaubliche Fähigkeiten. Sie vermögen, Dich, Deinen Geist, Deine Erinnerung in Bruchteilen von Sekunden in eine andere Zeit, an einen anderen Ort zu katapultieren. So ging es mir während der Lektüre des ersten Kapitels dieses Buches. Ich befand mich plötzlich wieder tief in den bergigen Wäldern des bayerischen Voralpenlandes irgendwo hinter Lenggries, an einem nasskalten Herbstabend irgendwann in den frühen Achtzigern. Vollmundig angekündigt als Survivaltour einer Truppe harter Jungs, standen wir dann dort, ziemlich orientierungslos und ohne nennenswerte Hilfsmittel, irgendwo im tiefen Dickicht des Waldes, um uns herum fiel die Dunkelheit, für die Nacht waren schwere Gewitter angesagt, wir unfähig, einen Finger zu rühren, geschweige denn einen schützenden Unterschlupf für die Nacht zu bauen, jeder nur mit sich und seinen herankriechenden Dämonen befasst. Ich werde nie vergessen, wie hilflos , wie angstvoll, von aller Welt verlassen, ich mich in dieser Nacht gefühlt habe, wie ich, genau wie die anderen, lose verstreut, Stunde um Stunde bis zum erlösenden Morgengrauen mit dem Rücken an einen Baum gelehnt bewegungslos ausgeharrt habe, während endlose Gewitter mit endlosem Regen über uns niedergingen und nur die Blitze Schlaglichter in die tiefe Dunkelheit warfen. Eine Erfahrung fürs Leben, diese plötzliche Erkenntnis, wie elementar gefährdet, wie klein und völlig unbedeutend man sich fühlen kann, so man keinen Schutzraum, keinen Rückzugsort mehr hat und allen Einflüssen von außen schutzlos ausgeliefert ist. So oder ähnlich mag sich wohl auch der Autor dieses Buches, Richard Brox, gefühlt haben, als er, gerade 21-jährig, im Frühjahr 1986 durch einen Gerichtsvollzieher mit begleitendem Räumkommando aus seinem letzten, zumindest temporären Zufluchtsort, nämlich der elterlichen Wohnung in Mannheim, mit nichts als 20 Mark und zwei Plastiktüten auf die Straße gesetzt wurde. Den Halt in seinem wahrlich bewegten und bedauernswerten Leben hatte er da allerdings schon lange verloren bzw. gar nicht erst gehabt. Wie es dazu kam und wie es später mit ihm weiterging, davon erzählt er in seiner eindringlichen, ehrlich und offen geschriebenen Autobiografie, eine Aufarbeitung seines Lebens wie auch eine offene Anklage. Brox ist der Prototyp eines Menschen, bei dem so ziemlich alles schief gelaufen ist, was schief gehen konnte. Hineingeboren in ein prekäres Elternhaus in einem prekären Stadtteil Mannheims, Vater und Mutter schwer kriegstraumatisiert, ihre grauenvollen, quälenden Erinnerungen in Alkohol und Apathie ertränkend, der intelligente Sohn von klein auf völlig unbeachtet und allein gelassen, sehen Behörden und Gesellschaft der späten 60er keine andere Lösung, als den notorischen, hochaggressiven Verweigerer wiederholt aus seiner Familie zu entfernen und in Kinderheime zu verfrachten, Vorhöllen, in denen er, wie damals ja an der Tagesordnung, von Nonnen wie von pädophilen Erziehern gequält und angegangen wird. Die logische Folge ist der haltlose Absturz auf die Straße, wo er sich als bindungsunfähiger Einzelgänger mit Alkohol und Drogen rund um die Uhr betäubt und mit Betteln und Kleinkriminalität am Leben hält. Erst mit Mitte Zwanzig schafft er den Entzug und lebt fortan für Jahrzehnte ein selbstgewähltes, unstetes Dasein als Berber auf Wanderschaft, eine bewusste Abgrenzung zum bürgerlichen Leben, zu dem ihm der Zugang immer verwehrt blieb. Sein Leben ändert sich erst, als er Anfang des neuen Jahrtausends durch Zufall mit dem noch jungen Internet in Berührung kommt und hier einen bis heute existenten Blog über die qualitative Bewertung von Obdachlosenunterkünften in Deutschland kreiert, was ihm in der Folge einigen Bekanntheitsgrad beschert und später auch die Teilnahme in Dokumentationen und Talkshows ermöglicht. Seine Freundschaft und Zusammenarbeit mit Günter Wallraff ist hier exemplarisch. Das Buch überzeugt vor allem durch die Ehrlichkeit und Klarheit seines Verfassers in der Berichterstattung über sein Leben. Es ist für mich ein erneuter, plakativer Beweis dafür, wie elementar Lebenschancen, aber auch die ganze stimmige bzw. gestörte Persönlichkeit eines Menschen, von seiner Herkunft, seiner genetischen Prägung, ganz besonders aber von gewährter oder fehlender elterlicher Fürsorge und Zuneigung, abhängig sind. Wer hier die Arschkarte zieht, hat ein Leben lang zu knabbern, soviel steht fest. Ein starker, unbedingt lesenswerter Bericht.

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