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anne_hahn

Posted on 8.7.2020

Mein kleiner Buchladen - geklaute Bücher: Im Brand der Welten In diese Welt, in der die Habsburger herrschen, die osmanische Vergangenheit aber noch lebendig ist, wo Menschen zu Göttern mit unterschiedlichen Namen beten, aber dieselben Teufel und Hexen fürchten... Es ist ein lauer Samstagnachmittag, Wolken ziehen über den Mauerpark und ich schlendere mit einem alten Freund über die neuen Wege. Türkische Familien strömen aus dem angrenzenden Wedding auf Wiesen, Spielplatz und Steinkreis, Basketballspieler zeigen ihre Körper, Musiker trommeln, klimpern und blasen. Ein Mann fragt uns nach Almosen und jauchzt, als S. ihm seine Wegzehrung reicht, ein Vanille- und ein Schokohörnchen. Wir hören ihm ein wenig zu und scheiden lächelnd. Meine Fußballfreunde haben mich vor wenigen Stunden Remis-Queen vom FCM getauft, wir sind durch. Klassenerhalt. Ein Pulk Polizisten läuft Streife, behängt mit allerlei wütendem Kram, die Gesichter unbesorgt. Junge Männer tragen Boxen tiefer in den Park hinein. An der Eberswalder noch mehr Aufgebot, bis zur nahen Wache hin rüsten sich Mann und Frau für die Parkpatrouillen. Die Partybahn bringt uns zum Friedrichshain, auf Decken lagern Freunde, Bekannte, Unbekannte. Viele tragen schwarz, ein Nazis-Raus-T-Shirt, ein Baby. Wein, Brot, Bier, ein Anglerstuhl, den schnapp ich mir. Ein lauter Mann verlangt nach Keks, das sei heißer Scheiß, eine Frau bietet mir Rum an, oder doch lieber Wodka? Ich versuchs mit dem Ananaslikör und klebe prompt. S. schenkt der Gastgeberin eine Autogrammkarte (ich hab einen Christian Beck-Sticker überreicht bekommen, just nach dessen letztem Saison-Tor um 15:12 Uhr), O. schaut nachdenklich auf das junge Gesicht Gojko Mitics, lächelt und neigt den Kopf. "Ist er eigentlich Kroate oder Serbe", fragt S. und O. antwortet ohne zu zögern "Serbe." Ein kroatisches Elternpaar würde ihrem Sohn niemals den Vornamen Gojko geben, meint sie und schon driften wir ab. Kindheit, Indianerfilme. Woher wir uns kennen, fragt O. und ahnt es, aus Magdeburg. Wann wir uns trafen? Im Flur der kommunalen Wohnungverwaltung, sagt S., nee früher, glaube ich. Das erste Treffen bleibt nebulös, ist 35 Jahre her. Der Joint lässt uns länger grübeln. O. meint, das fehle ihr, Freunde aus der Kindheit und Jugend, seit einem halben Leben sei sie hier. Die alten Freunde dort, in Bosnien. Und mit dem Zauberwort fangen meine Fragen an. Ich habe ein wunderbares Buch gelesen, erzähle ich, zur Hälfte. Die neue Biografie von Ivo Andrić, ich habe gestaunt, wie rückständig er Bosnien gesehen und beschrieben habe. So voller Aberglauben! "Das ist es auch", ruft O., "bis heute!" Und berichtet, wie ihre Mutter mit ihr in die Moschee gegangen sei, während eines Besuches in der alten Heimat, ein Foto und anderes Persönliches dabei, um sich mit Hilfe des Imams eines Menschen zu erwehren, der sie verfolge. Das sei ab sofort erledigt gewesen. Wir staunen. Ob ihre Familie muslimisch sei? Nein, orthodox, oder nein, gar nichts. "Wir sind Serben." Sie habe zu Hause in Deutschland nur serbisch reden dürfen, weil der Vater die Deutschen nicht mochte, unter denen er seine Kinder aufzog. Egal, wenn man Probleme hat, geht man in die Moschee, auch jetzt noch. Ihre Schwester lege das Brot nie auf die flache Seite, das bringt Unglück. Wir kichern. Später steht O. am Rand des trunkenen Floßes, das Baby auf dem Arm. Sie macht Selfies und sieht glücklich aus. Ich denke an den rumänischen Mann, der mir vor zwei Wochen mein Handy von einem Späti-Tisch geklaut hat, während er vorgab, zu betteln und eine beschriftete Pappe vor meinem Gesicht herumwedelte. Nach einer halben Stunde hatte ich den Verlust bemerkt und zu Hause auf googlemaps sehen dürfen, dass mein Handy vom BND (der Späti liegt direkt gegenüber und hat eine aufregend breite Bier-Auswahl!) aus in den Maxim-Saal am Nettelbeckplatz gefahren war. Mein Whatsapp-Fenster auf dem Laptop zeigte mir den letzten Chat plötzlich auf rumänisch an, dann war alles weg. Meine Nummern und Apps. Auch mein elektronisches Rezensionsexemplar vom "Brand der Welten". Während ich überlege, wie ich die knapp zweihundert gelesenen Seiten der Biografie noch nutzen könnte und herauskristallisiere, dass mir das Wehklagen des jungen immerkranken Studenten und Diplomaten Ivo Andrić ziemlich auf den Senkel gegangen war, Rom ist schlecht, Zagreb fürchterlich, Wien, Bukarest, die dummen Leute, das Wetter, achherrje... ruft eine Frau aus der Runde O. zu, sie solle eins der Baby-Selfies doch ihrer Familie in Bosnien schicken. Dann sei mal Ruhe mit den Nachfragen. Links neben mir schnaubt es, die Lebensgefährtin O.s mit dem Nazis-Raus-T-Shirt zischt "super Idee!".

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