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daslesendesatzzeichen

Posted on 1.7.2020

Ein schmales Bändchen hat die Topautorin aus Frankreich da auf den Markt gebracht, aber die meisten Bücher von ihr sind dankenswerterweise keine Wälzer und dieses hier ist eine wunderbare Bereicherung und wieder einmal der Beweis, dass manchmal auch in der Kürze die Würze liegt und nicht alles auf 500 Seiten episch ausgebreitet werden muss, um zu wirken. Delphine de Vigan setzt mit ihrer Erzählung dann ein, wenn es soweit ist, dass eine ehemals extrem freiheitsliebende und selbstständige Frau, die immer mit Worten arbeitete, sie punktgenau einsetzen und treffend anwenden konnte, nach und nach ihre Sprache verliert. Michka wird alt und dement. Ihre junge Freundin Marie, die eine Art Tochterersatz für Michka ist und für die wiederum die alte Frau eine Art zweite Mutter ist, nimmt alles liebevoll in die Hand und organisiert einen Heimplatz für sie. Noch wohnte die alte Dame in ihrer Wohnung in direkter Nachbarschaft zu Marie, die früher oft, wenn ihre Maman, die zwar eine liebe Mutter, aber nicht fähig war, Verantwortung zu übernehmen, sie wieder mal vergessen hatte, zu Michka zum Übernachten kam. Das Haus, die Wohnung, alles steckt voller Erinnerungen, doch so viel versteht auch die einst so souveräne und kluge Michka – so schön es wäre, sie kann nicht alleine bleiben. Sie braucht Betreuung, denn wenn man Worte verliert, verliert man auch den Bezug zur Welt. Vigan lässt den Leser „mitleiden“, wenn sie Michka die falschen Worte in den Mund legt. Michka ist auch in ihrer Demenz noch klug und kokett: Sie sucht sich ähnlich klingende Worte. Das irritiert und lässt den Lesefluss stocken – aber das passt natürlich zum Inhalt. Die Form verbindet sich mit dem Plot – das ist die hohe Schule der Literatur! Mich hat es gestört und dennoch gefesselt. Nach und nach verstummt Michka immer mehr und ihr Gegenüber übernimmt den Erzählpart. Aber nachts, wenn sie Albträume von einer vermeintlich so bösen, strikten Altenheimleiterin hat, spricht Michka flüssig. Ihre Bezugspersonen sind Marie und ihr Logopäde Jérôme. Der junge Mann und sie – man könnte es fast flirten nennen, wenn sie miteinander reden – jedenfalls verstehen sie sich sehr gut. Er ist ehrlich interessiert und sie eine spannende Frau – die vor seinen Augen immer mehr verschwindet. Er versucht alles, doch es nutzt nichts. Michka verliert den Kampf, ihr gehen die Worte aus, ihre Persönlichkeit verschwindet. Doch zuvor erzählt sie auch ihm davon, dass sie heute nicht am Leben wäre, hätte sich nicht ein junges Pärchen damals im Krieg um sie gekümmert. Bereits einmal hat Marie in Michkas Namen über eine Zeitungsanzeige versucht, etwas über diese Leute herauszufinden, von denen Michka kaum mehr weiß als die Vornamen. Einmal noch, das ist Michkas größter Wunsch, möchte sie sich bei diesen Menschen bedanken, sollten sie noch leben. Marie schaltet nochmals eine Anzeige, doch es benötigt mehr als das, um diese Leute aufzustöbern … Der derzeit hellste Stern am französischen Autorenhimmel heißt Delphine de Vigan und das nicht ohne Grund. Diese Dame beherrscht es, ein gänzlich unschönes Thema so charmant zu verpacken, voller Liebe, Demut, Empathie und Herzenswärme, dass man mit lächelndem und weinendem Auge zugleich dasitzt und liest. Eine rasche, kurzweilige Lektüre, die einen mit einem warmen Gefühl der Zuneigung zurücklässt, trotz des traurigen Themas.

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