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Bris Buchstoff

Posted on 27.6.2020

Mickey ist Streifenpolizistin in Philadelphia. Jedes Mal wenn sie unterwegs ist, jedes Mal, wenn eine Meldung zu einer unidentifizierten Leiche einer jungen Frau über den Funk kommt, hofft sie, dass es nicht ihre Schwester Kacey ist. Beide sind nach dem Weggang des Vaters und dem Tod der Mutter bei ihrer Großmutter aufgewachsen. Früher waren sie wie Pech und Schwefel, aber als Kacey begonnen hat, Drogen zu konsumieren, drifteten die beiden immer mehr auseinander. Mickey hat den strebsamen Weg gewählt, um vielleicht aus dem heruntergekommenen Viertel, in dem die beiden Schwester aufgewachsen sind, wegzukommen, doch tatsächlich bleibt sie Kensington treu. Und das nicht nur, weil sie ein Auge auf ihre Schwester haben will, mit der sie seit fünf Jahren nicht mehr gesprochen hat. Der Grund für den Bruch ist schwerwiegend, hat mit Kaceys Sucht zu tun und ist für Mickey unentschuldbar … Liz Moore hat keinen typischen Polizei- oder Kriminalroman geschrieben. „Long bright River“ ist sowohl inhaltlich als auch konzeptionell viel mehr. Das Kensington, in dem Mickey unterwegs ist, kennt Moore sehr gut. Ursprünglich kam Moore selbst wegen eines journalistischen Projekts dorthin und erlebte das ganze Ausmaß der Auswirkungen der Opioidkrise, die die USA seit den 1990er Jahren schwer im Griff hat und ihren Anfang mit einem verschreibungspflichtigen Medikament nahm, dessen Hauptbestandteil Oxycodon in Deutschland seit 1929 nur auf Betäubungsmittelrezept zu erwerben ist, und ursprünglich vor allem Schwerkranken und Sterbenden zur Schmerzlinderung verschrieben wurde. Durch geschickte Vermarktung und aggressive Lobbyarbeit für das angeblich leicht dosierte und somit mit scheinbar geringem Suchtpotenzial ausgestattete Schmerzmittel, wird dieses in den USA seit Jahrzehnten auch gegen leichte Schmerzen und ohne großes Gewese verschrieben. Opioide greifen nun aber stark in die Hirnchemie ein und machen dadurch rasch abhängig – bekommt man das Medikament nicht mehr verschrieben, steigt man eben auf andere opioidhaltige Drogen, wie Heroin oder auf Fentanyl um. Der Handel damit blüht, die Zahl der Todesopfer steigt rasant, strukturschwache Viertel wie Kensington gehen dabei noch mehr vor die Hunde, denn an die tägliche Dosis auf welchen Wegen auch immer zu gelangen und die Abhängigkeit selbst machen einen „normalen“ Alltag unmöglich. Moore war geschockt vom Grad der Verwahrlosung Kensingtons und seiner Bewohner und blieb um zu helfen. Dass sie weiß, worüber sie schreibt, merkt man ihrem Roman in jeder Zeile an. Dabei bleibt sie wohltuend wertfrei und klagt, wenn überhaupt, die Umstände an, die dazu führen, wenn jemand sich aus dieser furchtbaren Trostlosigkeit wegwünscht und sich mit Hilfe der Drogen dem trügerischen glücklichen Schein eines kurzen Highs hingibt. Während Mickey ihre Streife fährt und dabei versucht, einem Mörder auf die Spur zu kommen, der vor allem junge Frauen umbringt, die den Straßenstrich bevölkern und die sie fast alle von früher kennt, lässt Moore die Leserschaft immer tiefer in die verschiedenen Verwicklungen und Geheimnisse der Familie Fitzpatrick Einblick nehmen. Hier ist nichts vorhersehbar, erahnbar vielleicht, auf jeden Fall aber von emotionaler Wucht und teilweise schwer auszuhalten. Aber gerade bei solchen Dingen muss man hinsehen, möchte man etwas verändern. Genau darauf scheint es Moore anzukommen: Sie analysiert nicht, sie macht die Zustände für uns Leser*innen nachvollziehbar, fast schon erfahrbar. Und das auf eine sehr empathische und klare Art und Weise, die sie konzeptionell spannend und klug umgesetzt hat. Mickey ist aber nicht nur Polizistin, sie ist auch alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen, den sie über alles liebt und den sie um alles in Welt davor bewahren will, einen ähnlichen Weg einzuschlagen, wie es ihre Schwester getan hat. Weshalb sie so sehr darauf aus ist, ihn von der Familie und von allem fernzuhalten, was nur irgendwie mit ihrer Schwester zu tun haben könnte, deckt Moore nach und nach und in Rückblicken auf. Mickey selbst entdeckt erst sehr spät, weshalb sie einen gänzlich anderen Weg einschlagen (konnte), als ihre Schwester. Diese Entdeckung verwandelt die latent vorhanden Schuldgefühle und die starke Wut auf die Abhängigkeit ihrer Schwester in Mitgefühl und ist der Motor für weitreichende Veränderungen in ihrem Leben. „Long bright river„ ist ein grandioser Roman, der trotz seiner ruhigen Erzählweise – auf keinen Fall mit langweilig zu verwechseln – die jedoch mit Wucht daherkommt, äußerst spannend und gleichzeitig vielschichtig. Moore scheut sich nicht, auch die Probleme des Machtmissbrauchs und der Korruption bei der Polizei deutlich zu machen und aufzuzeigen, dass die vermeintlich Guten häufig die viel schlechteren Menschen sind. Mit Dank an den Verlag und dem Wunsch nach mehr davon: Absolute Leseempfehlung!

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