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Sofie Lichtenstein

Posted on 27.6.2020

Ein Buch, dem ich ambivalent gegenüberstehe. Basierend auf einer wahren Geschichte beraten sich innerhalb von 48 Stunden die mennonitischen Frauen aus Molotschna, die von den Männern der Kolonie betäubt und missbraucht wurden (nicht einmal die Kinder blieben verschont), wie sie mit den Vorfällen umgehen. Sollen sie bleiben und weitermachen, als wäre nie etwas passiert? Oder gegen die Männer kämpfen? Oder Molotschna verlassen und ein neues Leben in der Fremde wagen ohne Männer? Es ist ein wenig so, als läse man ein Theaterstück. Formal und wegen der Eigenwilligkeit des Erzählens fühlte ich mich zuweilen an Yann Martels "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts erinnert" (Englisch: Vergil and Beatrice). Beide Romane haben wegen ihrer Dominanz der Dialoge etwas ausgesprochen Bühnenhaftes. Während es bei Martel allerdings nicht zuletzt um die Metaebene geht (Wir kann man über den Holocaust sprechen?) und er mithin ein Theaterstück in die Rahmenhandlung einbettet, fußt die Dialogstruktur in Toews Buch auf der Form eines Protokolls, das der Erzähler August Epp auf Wunsch der Frauen führt - sie selbst sind dazu wegen ihres Analphabetismus nicht imstande. Ich möchte diese Art der Narration, der Text hatte dadurch nicht nur etwas Eigenwilliges, sondern auch gewissermaßen Wundersames an sich. Gleichzeitig liegt in der Protokoll- und männlichen Erzählperspektive ein großer Schwachpunkt, wenn man den Text vor dem Hintergrund feministischer Diskurse kontextualisiert. Zwar gibt die Binnenlogik des Romanes durchaus her, einen Typen Bericht erstatten zu lassen; und dennoch ist die Entscheidung unglücklich wegen seines unfreiwilligen Subtext, der da lautet: Es braucht (mal wieder) einen Mann, der den Frauen eine Stimme gibt, sie lesbar und zugänglich macht für die Rezipient*innen. Ohne ihn erführe niemand ihr Schicksal, ja sie existierten gar nicht. Sie werden, während er ihnen Gehör verschafft, in dessen Abhängigkeit geschrieben, womit das biblische Motiv, das Eva aus Adams Rippe geschaffen wurde, einmal mehr reproduziert wird. Obendrein ist da auch noch dieses unnötige Thematisieren seiner romantischen Gefühle für eine der Protagonist*innen, das nicht nur keinen adäquaten erzählerischen Beitrag zum Kern der Geschichte leistet, sondern auch ablenkt von dem Verbrechen, das im Roman verhandelt werden soll. Meine zweiter Kritikpunkt beinhaltet möglicherweise einen Spoiler (Von daher: Obacht ab hier!), wobei im Roman bereits sehr früh klar wird, welcher der drei oben erwähnten Optionen die Molotschna-Frauen zugetan sind; und das ist das Verschwinden und Neubeginnen. Schnell sind sie sich einig, dass bleiben und über die Vorfälle hinwegsehen keine reale Alternative darstellt. Bliebe noch die Option zu kämpfen. Doch bis auf eine bärbeißige Protagonistin verwerfen auch diesen Gedanken alle Frauen recht schnell wieder. Kampf bedeutet schließlich Gewalt, und Gewalt ist unvereinbar mit ihrer Religion. Ich fühlte beim Lesen eine ziemliche Ernüchterung, auch wenn an dieser Stelle die Binnenlogik des Romans neuerlich greift. Nach dem Unrecht, das den Frauen widerfahren ist, wäre ein Aufbegehren ihrerseits durchaus nicht unangebracht gewesen. Schließlich wissen doch zumindest alle, die strukturelle Gewalt erfahren, dass lieb bitte, bitte sagen in der Regel nichts bewirkt, sondern nur Widerspruch, Wut und Revolution. In der Geschichte allerdings wird Kämpfen fast von vornherein als Möglichkeit ausgeschlossen. Ihre Religion gebiete Vergebung, keine Gewalt und Rache. Und somit wird das christlich-abendländische Dogma, selbst bei furchtbarsten Taten drüber zu stehen, zu ertragen, ja zu vergeben und bloß keinen Funken abgründigen Hass zu empfinden, reproduziert. Schwierig. Hätte man trotz des Mennonit*innenkontext sicher besser lösen können. Es muss jedoch erwähnt werden, dass das Zusammenkommen, gemeinsame Beratschlagen, Abstimmen und die selbstbestimmte Aneignung der Zukunft wiederum sehr emanzipatorisch ist. Ich sagte ja: Ich bin zwiegespalten. Aus literarischer Sicht ist "Die Aussprache" sehr interessant und gelungen; aus feministischer Perspektive jedoch tappt Toews in einige allzu bekannte Fallen. Lest es allerdings selbst, es lohnt sich.

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