sursulapitschi
Klein aber erstaunlich beschreibt dieses Buch in drei Worten. Es bietet wirklich viel auf wenigen Seiten und unterhält auch noch dabei. Ich bin beeindruckt. Die Salpêtrière in Paris hatte durch ihre speziellen Heilmethoden über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg einen zweifelhaften Ruf erworben. Im Jahr 1885 treibt das ganz erstaunliche Blüten. Jedes Jahr an Mittfasten wird ein großer Ball veranstaltet, bei dem sich interessierte Bürger und Insassinnen und zum Tanz treffen. Die ganzen Irren einmal live erleben hat einen ganz besonderen Kitzel, ein morbides Event, mal ganz was anderes. Und die Hysterikerinnen haben wochenlang Spaß daran, ihre Kostüme herzurichten für den einen Abend, an dem sie sich amüsieren dürfen. Mitten in diesen Trubel gerät Eugénie, deren neuste Allüren für ihre Familie nicht mehr tragbar sind. In der Salpêtrière landen Frauen aus den unterschiedlichsten Gründen. 1885 ist das der perfekte Ort, unliebsame Ehefrauen oder störrische Töchter loszuwerden. Für manch eine misshandelte Seele kann es aber auch eine Zuflucht sein. Man hat ein Bett, drei Mahlzeiten täglich und nur wenige Männer haben dort Zutritt. Wunderbar lebendig führt Victoria Mas den Leser in diese schräge Gesellschaft ein und zeigt Abgründe auf. Vor der Erfindung der Emanzipation sind Frauen bessere Haustiere, die weggesperrt werden, wenn sie sich wehren. Das bekommt man hier an mehreren Beispielen plastisch vorgeführt. Auch die unglaubliche Doppelmoral dieser Gesellschaft, Schein und Sein, Konventionen, die wichtiger sind als Individuen und die ein Frauenbild fordern, das absolute Selbstverleugnung verlangt. Der schmale Grat zwischen wissenschaftlichem Interesse und Schaulust wird hier sehr deutlich und erschüttert. Dieses Buch ist kurzweilig, wunderbar erzählt und gleichzeitig sehr aufschlussreich. Es macht eine Ära lebendig, die wir mit Darwin, Freud und wissenschaftlichem Fortschritt verbinden, die aber unter der schillernden Oberfläche Abscheulichstes verbirgt. Das ist lebendige, toll präsentierte Geschichte, absolute Leseempfehlung.