zauberberggast
Zwei Mathematiker im Wunderland - Metatextualität und dunkle Geheimnisse Während ich "Die Oxford-Morde" mit anerkennendem, aber auch etwas distanziertem Interesse gelesen habe, hat mich dieser zweite Oxford-Kriminalroman aus der Feder von Guillermo Martínez vollends überzeugen und begeistern können. “Der Fall Alice im Wunderland” ist erstmals im Jahr 2019 erschienen, im Gegensatz zum Vorgängerband, der bereits 2003 publiziert wurde. Man merkt, dass sich der Autor in dieser Zeit literarisch extrem weiterentwickelt hat. Die Handlung des Romans ist im Jahr 1994 angesiedelt. Für den Ich-Erzähler, der mit seinem Autor den Anfangsbuchstaben des Vornamens (G.) teilt, beginnt sein zweites Studienjahr in Oxford. Nachdem er und Logik-Professor Seldom im vorigen Jahr die "Oxford-Morde" lösten, sollte es für den Doktoranden nun etwas ruhiger zugehen. Seldom aber nimmt den Argentinier mit zu einer Sitzung der Lewis-Carroll-Bruderschaft, einem Verein von Wissenschaftlern, die sich der Erforschung von Leben und Werk des Erfinders von "Alice im Wunderland" verschrieben haben. Eine junge Doktorandin soll eine Entdeckung gemacht haben, die die Tagebücher Lewis Carrolls betrifft, die sie bei der Sitzung vorstellen möchte. Leider kommt es nicht dazu und der der Bruderschaft angehörende Seldom und sein Austauschstudent müssen mal wieder kriminalistisch denken, um einem tödlichen Rätsel auf die Spur zu kommen. Mir ging es wie dem namenlosen Ich-Erzähler: Ich wusste kaum etwas über die Biographie von Lewis Carroll, schon gar nicht, dass er Mathematiker in Oxford war und eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß. Umso mehr überrascht haben mich die ganzen Fakten und Enthüllungen, die im Roman über ihn gemacht werden. Martínez hält sich wohl an die tatsächlichen Forschungsergebnisse, die über Carroll existieren bzw. an Debatten über gewisse Vorlieben des viktorianischen Schriftstellers, die umstritten sind. Fiktiv ist die Bruderschaft und ihre Mitglieder, auch Oxford ist keine 1:1-Abbildung der realen Universitätsstadt, wie der Autor im Nachwort schreibt. Wir haben es mit einem klassischen Krimi à la Arthur Conan Doyle zu tun. Seldom gelangt mithilfe seiner intellektuellen Betätigung (als Professor für Logik/Mathematik) zu Schlüssen, von denen ihn einer zur Aufklärung der rätselhaften Mordserie führt. Unterstützt von seinem Doktoranden G., der ihm assistiert und ihm gelegentlich die notwendigen Denkanstöße verleiht, bzw. ihm manchmal sogar einen gedanklichen Schritt voraus ist. Das Paar erinnert schon etwas an das berühmteste Ermittlerpaar der Krimiliteratur: Sherlock Holmes und Dr. Watson. Petersen, der eigentliche Kriminalpolizist, ist mal wieder der, der bei der Aufklärung des Verbrechens den Kürzeren zieht und staunend mit ansehen darf, wie die Mathematiker den komplexen Fall lösen - ganz wie Inspector Lestrade bei Conan Doyle. Im Gegensatz zum ersten Band ist, wie in einem Agatha-Christie-Krimi, ein geschlossener Personenkreis beteiligt, aus dem jeder der Täter sein könnte. Das macht diesmal besonders Spaß, zumal die “Verdächtigen” alle verschrobene Wissenschaftler (leider wird nicht bei allen klar, aus welcher Disziplin sie stammen) sind, die alle Bücher über Lewis-Carroll geschrieben haben und sich locker den “Fall Alice im Wunderland” ausgedacht haben könnten. Ich liebe Krimis, die sich mit verschollenen Dokumenten, dunklen Geheimnissen und literarischen Vorlagen befassen. “Der Fall Alice im Wunderland” hat mich in dieser Hinsicht komplett überzeugt, denn hier strotz alles vor Metafiktionalität und literarischen Referenzen. Das Buch ist wunderbar geplotted worden und viel gefälliger geschrieben als der erste Teil, der mathematisch und philosophisch "abgehobener" daherkommt. Fazit: Ein wunderbar konstruierter literarischer Metakrimi, der den Leser auf viele spannende Irrwege “ins Wunderland” führt und gleichzeitig wunderbar unterhält.