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jankuhlbrodt

Posted on 23.6.2020

In den letzten Jahren birgt der Lilienfeld Verlag mit seiner Reihe Lilienfeldiana verschüttet liegende literarische Schätze. In einer schönen Halbleinenausstattung gestaltet, meist unter Verwendung eines Gemäldes, präsentiert er Texte, die zu lesen, mich noch nie nicht aufs Höchste angeregt haben. Nun ist vor Kurzem in dieser Reihe das Buch "Lourdes. Mystik und Massen" von Joris-Karl Huysmans erschienen. Auf dem Einband der Ausschnitt eines Gemäldes von Robert Klümpen, das brennende und rauchende Kerzen zeigt und „Alles wird gut“ heißt. Man muss nicht unbedingt selbst nach Loudes fahren. Es gibt einen Livestream im Internet, so dass man virtuell an den Gottesdiensten dort teilnehmen kann. Jahr für Jahr strömen Millionen Besucher zur Grotte von Massabielle, wo 1858 der Legende nach die Jungfrau Maria einem jungen Mädchen aus dem Ort erschienen sein soll. Pilger können das Wasser, das aus einer Quelle in der Grotte sprudelt, entweder trinken oder darin baden. 1903 und 1904 hielt sich der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans jeweils für mehrere Wochen dort auf, um für einen Roman zu recherchieren. Herausgekommen ist ein Buch, das eine Reportage ist, die das Bild eines Ortes zeichnet, der zwischen oberflächlicher Jahrmarktigkeit und tiefster Religiosität changiert. Man muss nicht gläubig sein, um sich von den Beschreibungen tiefster Religiosität und verzweifelter Hoffnung beeindrucken zu lassen, die manche der schwerkranken Gläubigen dazu bringt, in der Hoffnung auf Heilung in völlig verdrecktes Wasser zu tauchen. Beeindruckt, aber auch abgeschreckt. Berührt und angewidert. Und vielleicht ist es genau das, was das Buch in eine Art überhistorische Position hebt: Dass man Mitleid empfindet mit den Kranken, die in allergrößter Hoffnung in trübem Wasser baden, oder soweit sie nicht mehr selbst baden können, in eben jenes Wasser getaucht werden. Und es gibt keine Garantie dafür, dass sie Heilung erfahren. Nur hin und wieder wird von Spontanheilungen berichtet, die von Ärzten untersucht und dokumentiert werden. Huysmanns zieht durch die Krankenlager und Badehäuser und zeichnet geradezu minutiös auf, was er sieht. Man könnte meinen, die literarische Strömung des Naturalismus, dessen Flagschiff Zola war, und der auch Huysmans anhing, finde hier ihre Entsprechung, auch wenn Huysmans den antireligiösen Impuls, der in Zolas arbeiten liegt, zu gunsten einer religiösen Demut, dem Leiden gegenüber zurücknimmt. Das heißt nicht, dass er vor innerkirchlichen Verwicklungen die Augen verschlösse. Er sieht auch, und beschreibt sehr genau, den Schindluder, den manche katholischen Würdenträger mit der Volksreligiosität treiben. Und natürlich geht es dabei um Geld. Aber all das lässt den Autor das Leid und die Hoffnung der Pilger nicht vergessen. Auch habe ich bei der Lektüre des Buches eine große Bewunderung für den Übersetzer Hartmut Sommer entwickelt, der das Französische in ein angemessen nüchternes Deutsch überträgt, und der auch das Nachwort beisteuerte, in dem es heißt: „Fieberhaft hat Huysmans dieses Buch als sein letztes Werk fertig gestellt. Selbst schon durch eine unheilbare Krankheit schwer geszeichnet. Es ist der abschließende Schritt eines Weges, der am 5. Februar 1848 als Sohn eines Niederländers und einer Französin Geborenen in jahrelanger Suchbewegung vom agnostischen Naturalismus bis hin zu Glauben und Kirche geführt hat.“ Ich kann dem Weg folgen, ohne die Religösität zu teilen, aber die Suche ist mir vertraut.

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