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gwyn

Posted on 19.6.2020

Der Anfang: «Joseph, eng an mich geschmiegt. Er auf dem Gepäckträger, breitbeinig über den Satteltaschen wie ein Cowboy beim Rodeo. Ich über den Lenker gebeugt, die rechte Hand auf dem Gashebel.» Der 16-jährige Michel braust mit seinem geliebten großen Bruder Joseph, einem Bergmann, auf dem Moped durch die Straßen seiner französischen Heimatstadt. Der nächste Tag wird diese Stadt verändern: Am 27. Dezember 1974 kommen durch eine Wetter-Explosion in der Zeche Saint-Amé in Liévin 42 Bergmänner aufgrund eines fatalen Fehlers der Werksleitung ums Leben. Sämtliche Sicherheitsvorkehrungen waren trotz bekannter Risiken außer Kraft gesetzt. Die Witwen erhalten am Ende des Monats die makabere Lohnabrechnung: Drei Tage sind abgezogen, «ungeklärte Abwesenheit», ist vermerkt. Der Zorn ist groß! – Nach jahrelangen Protesten sprach ein Gericht der Betreibergesellschaft die Verantwortung für das Unglück zu. Soweit die reale Geschichte zum Grubenunglück in Saint-Amé in Liévin in Schacht 3B. Ein Trauma erfasst die Stadt. Auch Joseph ist tot. Michel ist verzweifelt – und ein Jahr später nimmt sich der Vater das Leben. Michel flüchtet nach Abschluss seiner Automechanikerausbildung nach Paris und wird Lkw-Fahrer, heiratet. Die Worte seines Vaters wird er nie vergessen: »Du musst uns rächen!« Der Roman beginnt 40 Jahre nach dem Unglück. Michel hat nun auch seine Frau zu Grabe getragen. Das Grubenunglück und der Tod seines Bruders haben ihn nie losgelassen. Wie versessen sammelt er alle Informationen dazu, sperrt sich in einer Garage ein, die er zu einem Tatortzimmer umfunktioniert hat. Akten, Beweise, Zeitungsausschnitte und Fotos an der Wand. Er studiert jedes Detail, schließt sich ein in seinen Kummer. Michel will Rache! Für ihn ist der damalige Steiger schuld, denn der war für seine Truppe verantwortlich, hatte alle Sicherheitsmaßnahmen in den Wind geschlagen, die Männer einfahren lassen. Aber der Steiger lebt! Er muss büßen!, so nimmt es sich Michel vor. «Die Kohle wird dir nur Kummer machen. Auch wenn du nicht dabei draufgehst. Auch wenn du das alles überlebst, den Staub, die unsicheren Ausbauten, die entgleisenden Hunte, das Wüten des Abbauhammers, die Eiseskälte bei der Ausfahrt. Auch wenn du auf beiden Beinen in Rente gehst, wirst du die Dreckskohle doch nie loswerden. Ein Teil von dir wird unten bleiben. Du wirst eine Staublunge kriegen, Joseph. Die kann man dann höchstens noch in den Ofen schmeißen, um Feuer zu machen. Du bist dann vergiftet. Halb taub und halb tot.» Sorj Chalandon erinnert an ein fürchterliches Grubenunglück, der Roman ist eine Hommage an die Opfer (alle Namen werden am Ende des Buchs aufgeführt) und eine Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus – der Gewinnsucht. Menschenleben zählen nicht. Sehr eindrucksvoll beschreibt Chalandon, wie der Kohleabbau die Gesundheit der Kumpel im Lauf der Jahre zerstörte, aber auch wie eine ganze Stadt sich in schwarzen Staub verhüllt, Salat, den man dreimal waschen muss, bis das Wasser sich nicht mehr grau färbt. Die Gasexplosion in über 700 Metern Tiefe war die gewaltigste Bergwerkskatastrophe der französischen Nachkriegszeit. Gleichwohl das ist nur ein Teil der Geschichte. Michel, der Ich-Erzähler, berichtet uns seine Version. Einem Icherzähler darf man nie vertrauen … oder doch? 40 Jahre trägt er die Geschichte mit sich herum, kann nicht vergeben. Der Tag seiner Rache ist gekommen! Chalandon ist ein eindrucksvolles Psychogramm eines Menschen gelungen – das Ganze verwoben mit einem historischen Ereignis, eine Erinnerung, die über den Unglückstag hinausgeht. Die Erinnerung daran, wie viel Leid mit dem Bergbau verbunden ist. Ein Mann, der sein Leben lang von Schuld geplagt wird. «Manchmal muss man die Unvernunft bis zum Ende treiben, um sich der Vernunft zu stellen» Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, gilt als einer der bedeutendsten Journalisten und Schriftsteller Frankreichs. Viele Jahre lang schrieb er für die Zeitung ›Libération‹, seit 2009 ist er Journalist bei der Wochenzeitung ›Le Canard enchaîné‹. Für seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurde er mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit zahlreichen Literaturpreisen gewürdigt, unter anderen dem Prix Médicis und dem großen Romanpreis der Académie française.

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