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jankuhlbrodt

Posted on 19.6.2020

Cottens Waidner Manchmal denke ich, es sei für mich vorbei mit dieser Art des Lesens, die mich in einen Text zog, in dem ich mich nicht wiederfinden konnte, es sei denn als einen stotternden staunenden verunsicherten Leser, dem alles, was er bis dato dachte, zwischen den Fingern zerronnen ist. Einen freien Leser also, oder zumindest einen, der so etwas wie Freiheit erahnt. Es gab das Feste nicht mehr, das, woran man sich, wenn es hart auf hart kommt, auch gegen besseres Wissen gehalten hat, oder halten konnte, was einem eine Identität verlieh. Dieser Weg zum Selbstbetrug war versperrt, ich musste mir Derartiges schon selber bauen, zusammensetzen aus Momenten, die mir nahe schienen, oder von denen ich wollte, dass sie mir nahe sind, um im Text zu navigieren. Aber letztlich war es eine Reise ins Jenseits des kartografierten Universums. Deshalb vielleicht die Nähe zur Science Fiction. "Heute trug B.I. Belahg ihren mit Fragezeichenübersäten Rollkragenpulli. Der grau und grün gestreifte Rollkragenpulli zeigte ein Heer identischer Köpfe im Linksprofi. Rote Fragezeichen bedeckten oder zerdrückten die linksgerichteten Köpfe wie Helme." Gut, dieses Zitat bewegt sich noch in einem klassisch beschreibenden Modus. Aber es steht noch am Anfang, und wenn die Fragezeichen noch eine Analogie eröffnen, spielen sie sich in der Lektüre mehr und mehr in den Vordergrund. Begriffliches löst sich in Begriffskaskaden auf, Identitäten werden zu Indentitätenschwällen wie die Wasserschwälle in Wasserfällen, zu einem Überfluss, in dem man letztlich bis zu den Knien watet oder besser bis zum Hals. Und natürlich beginnt der Text damit, dass ein Drehbuch entworfen wird, doch gleich die erste Figur löst sich von ihrer Rolle und ein pferdehufiger Wellensittich, von dem man nicht weiß, inwiefern ihn das teuflische Element zu recht auszeichnet, oder ob er nicht mehr ein Kanarienvogel ist, emanzipiert sich von seiner Rolle und schlägt der Protagonistin, die auch ein Protagonist ist, im Sturzflug einen Zahn aus, den sie oder er als Trophäe durch den Text trägt. Überhaupt Zähne. Sie spielen eine Rolle, und ich war dafür sensibilisiert, weil ich kurz vor der Lektüre bei der Zahnärztin war. Und immer wieder finden sich im Text populärwissenschaftliche Einsprengsel, die vermeintliche oder wirkliche Naturwissenschaftliche Erkenntnisse referieren: "Odontogenese, Zahnentwicklung, ist komplex und von Spezies zu Spezies unterschiedlich. Von der Initiation bis zur Eruption zieht sich ein Komplex hin, der von GenexpressionProteinsignalen, Zellfunktionen und unbekannten Faktoren abhängt." Und es waren doch immer die besseren, die begeisternden Bücher, die einem den Boden unter den Füßen wegzogen, und man befand sich in einer Schwebe, einer Schwerelosigkeit, verlor sich in einem Zustand des Lesens. Wenn ich dann wieder zu mir kam, also aus dem Text heraus in eine Welt, die eine gewisse Realität für sich in Anspruch nahm, blieb doch mein Bewusstsein und Selbstbewusstsein um einen Tick verschoben. Ich ging eine Zeitlang zumindest neben dem Pfad, zumindest so lang, bis sich ein neuer herausgebildet hatte, bis er herausgetreten war. Isabel Waidner zelebriert in diesem ihren seinem Buch Geile Deko die Identitätsauflösungen und ich gebe zu, dass ich ihnen ohne die Übersetzung Ann Cottens nicht hätte soweit folgen können, wie ich meine das ich dies tat. Und das Geniale ist, ich bleibe in jeder Hinsicht verunsichert. Man müsste jetzt eigentlich noch von der Bedeutung der Bären schreiben oder anderer Tiere, die sich durch den Text ziehen, oder über die Übertragung deutscher Recyclingstrategien auf Tierkadaver als Geschäftsmodell, aber das würde zu weit in den Text selbst führen. Soviel vielleicht noch: "Sie hatte winzige Hufe. Sie sprang über den Teppich, grasend wie es schien. Alpaca-mixed-Faser war zum Großteil ungenießbar, aber die neongrüne Farbe war nährstoffreich, und konnte vom Organismus gut aufgenommen werden." Das Duo Waidner/Cotten findet sich mit diesem Buch auf der Shortlist des Internationalen Literaturpreises 2020.

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