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Bris Buchstoff

Posted on 8.6.2020

Lucian Wing, Sheriff in Vermont und prinzipiell ein absolut gelassener Zeitgenosse, kommt an seine Grenzen. Nicht im Beruf, da bleibt er lässig. Privat läuft es so gar nicht rund für ihn. Das Sofa im Büro ist seine neue Heimstatt, weshalb ist ihm zunächst nicht so ganz klar. Der Verdacht liegt nahe, dass auch seine Einstellung zur weiteren Unterbringung seiner zunehmend dementen Mutter als zu buddhistisch empfunden wird. Sein Drang, den Dingen im Großen und Ganzen ihren Lauf zu lassen, bildet den Grund seiner Ausquartierung. Beruflich hat er etwas mehr Glück, als er einen neuen, einen weiblichen, Deputy einstellt. Deputy Gilfeather ist Ex-Marine und hat, was Gesetzesbrüche und deren Ahndung angeht, strikte Ansichten. Aber Wing spürt, dass sie die Richtige für den Job eines Deputy ist, abgesehen von der Tatsäche, dass sich kaum jemand um die Stelle reißt. Und dann gibt es da noch Stephen Roark, den Vorsitzenden des Gemeinderats, der nichts von der Wing-Methode hält und mit allen Mitteln herausfinden will, wie genau es dazu kommen konnte, dass er Terry St. Clair mitten in der Nacht, ohnmächtig und mit nur einer verbleibenden Hand auf der Straße auffinden musste … Ich nannte ihn „Mister Roark“. Ich nannte ihn nicht „Vorsitzender“ wie die meisten anderen. Das war weniger eine Anrede als eine Stichelei. Im Gemeinderat legte Roark großen Wert darauf, Vorsitzender (Maskulinum) eines Gremiums zu sein, dessen Mitglieder er Gemeinderäte (ebenfalls Maskulinum) nannte – wo er war, gab es keine Schrägstriche oder geschlechtsneutralen Bezeichnungen. Sein Pech, dass er damit bei Sally Anthony aneckte, die dienstälteste Gemeinderätin, einer Frau, die mindestens ebenso grob und selbstgerecht und beinahe so unerträglich war wie Roark. Sally ließ keine Gelegenheit aus, Roark als „der Vorsitzende“ zu titulieren. […] Viele andere taten es Sally nach und nannten Roark gern „der Vorsitzende“ oder „Vorsitzender Steve“. Ich allerdings nicht. Als Sheriff weiß man, dass sich früher oder später jeder im Distrikt über einen ärgert und es ganz unnötig ist, Extraärger zu provozieren. Es ist beeindruckend, wie knapp Castle Freeman seine Protagonisten beschreiben kann und dabei den Kern ihres Wesens scharfsichtig freilegt. Wie Wing selbst, braucht auch Freeman nicht viele Worte. Wie schon in seinem Vorgänger Supsense-Western-Crime-Roman „Auf die sanfte Tour„, oder wie auch immer dieses für mich einzigartige Genre heißen mag, zeigt Freeman auch in „Der Klügere lädt nach“, dass Figurenzeichnung und das Schaffen einer bestimmten Atmosphäre nicht langatmig sein muss und wie viel Spaß das Motto „in der Kürze liegt die Würze“ bereiten kann. Dazu muss man als Autor ein wirklich guter Beobachter sein. Freeman ist es. Und deshalb ist bei Freeman auch nicht immer alles schwarz oder weiß, sondern so wie Menschen sind, denken und handeln, auch mal nicht ganz definierbar. Lucian Wing selbst erhält mehr Facetten, als man im ersten Band erahnen konnte und es wird klar, dass er nicht der einfältige HInterwäldler aus Vermont ist, für den ihn Roark halten mag. Während Roark, ehemaliger Offizier und Jurist mit vielen Verbindungen, immensen Druck ausübt, um denjenigen zu finden, der Terry St. Clair seiner linken Hand beraubt hat, ist Terry selbst gar nicht so sehr daran gelegen, publik zu machen, was hier wirklich passiert ist. Denn manchmal scheint es Situationen zu geben, die einfach geregelt werden müssen. Gerade wenn es darum geht, junge Männer ein wenig im Zaum zu halten. Die Vorgehensweise allerdings ist durchaus fragwürdig und auch häufig nicht ganz mit dem Gesetz vereinbar, es trifft aber niemals jemand Unbescholtenen oder jemand falschen. In Vermont lebt offensichtlich ein ganz eigener Menschenschlag, das ist nach der Lektüre klar. Auch wenn es manchmal ans sprichwötlich Eingemachte geht, so passen sich diese Menschen sowohl in ihren Gedanken als auch Handlungen durchaus an, wenn ihnen bewusst wird, dass es eine rote Linie gibt, die nicht überschritten werden sollte. Sie es aber getan haben. Und so ist wohl vielen klar, dass nicht immer alles ist, wie es scheint, ein zu genaues Hinsehen aber durchaus gefährlich werden kann. Und obwohl „Der Klügere lädt nach“ härter ist, als sein Vorgänger, weist er dieselben sprachlichen und konzeptionellen Qualitäten auf, mit etwas mehr, manchmal auch schwarzem, Humor gewürzt. Ein Heidenspaß, wie ich ihn sehr genossen habe. Das lag sicherlich auch an der wie immer großartigen Übertragung ins Deutsche durch Dirk van Gunsteren. Ob es in Vermont wirklich so zugeht, wie Freeman es beschreibt, ist mir im Grunde genommen gleichgültig, weil mir die Darstellung des Lucian Wing als untypischen Sheriff, der seine Geschlechtsgenossen viel besser einschätzt, als sie es selbst für möglich halten, und damit gleichzeitig Geschlechterrollen aufbricht, wichtiger ist, als die Frage nach lange gehüteten Geheimnissen. Erneut ein knackiger Lesegenuß der besonderen Art. Gerne mehr davon!

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