SternchenBlau
Eine Waise als Humboldts Erbe Alexander von Humboldt, bei manchen Namen schwingt gleich so eine große Heldenverehrung mit. Aber die bayerischen Gebrüder Schlagintweit, die sich 1855 mit Humboldts Segen zur Erforschung Indiens aufmachten, werden in „Das Museum der Welt“ nicht als große Helden und Abenteurer gefeiert. Auch, wenn sie auf ihren Reisen vielleicht großes entdeckt haben – sie bekommen nicht mal eine eigene Sichtweise. Denn es ist der fiktive Waisenjunge Bartolomäus, der diese Geschichte erzählt und ein ganz eigenes Ziel verfolgt: In Schriftform das titelgebende Museum der Welt zu erschaffen. Denn er sieht sich auch auf den Spuren seines großen Vorbilds Humboldts. Die Ironie dabei: Wie viele Kunst- und Kulturgegenstände haben die Kolonialherren noch heute in westlichen Museen stehen? Unzählige. Die Schlangintweits schildert Bartolomäus durchaus immer wieder mit den Fratzen der weißen Kolonialherren, mit deren Habitus auch sie die „Indier“ häufiger ausbeuten oder zumindest zeigen, dass ihnen die „Eingeborenen“, wie sie diese nennen, oftmals egal sind. Und dennoch schleichen sich die Brüder immer wieder in Bartolomäus’ und mein Herz beim Lesen. Glücklicherweise weicht Kloeble aus, bevor die Schlangintweits zu „white saviors“, weißen Rettern, von Bartolomäus’ werden könnten. Am Ende wehrt sich der Junge selbst dagegen. Bartolomäus’ Meinung von den Brüdern wie deren Verhalten bleibt ambivalent. Wie ambivalent ist nicht unser priviligiertes, weißes Leben, wenn wir doch rein statistisch durch unserer Existenz im globalen Norden jede:r von uns mehrere Sklav:innen im globalen Süden „hält“? Ich habe mich am Anfang gefragt, ob das Buch nicht auch etwas von kultureller Aneignung hat: Lasst den Unterdrückten ihre eigene Geschichte, erst recht, weil BIPoC auch als Autor:innen seltener Chancen bekommen. Aber die Geschichte aus Sicht der Brüder Schlagintweit wäre eben keine Demonatage gewesen. Und Christopher Kloeble schafft mit seinem Protagonisten einen enormen Kunstgriff, dass er aus Sicht eines Kindes erzählt, dass durch die Umstände intellektuell frühreif, aber emotional doch ein Kind noch ist. Daher war für mich seine Ambivalenz zu den Brüdern immer emotional nachvollziehbar und seine Naivität Teil seines kindlichen Alters – so dass und eben keine Zuschreibung über die Inder damit verbunden ist. Bartolomäus’ Gedanken sind manchmal so schmerzlich treffend wie hier: „Eleazars Haut ist dunkler als meine im brennenden Sommer. Das bedeutet, dass er wahrscheinlich sehr gut ist in dem, was er tut. Wäre seine Haut heller, müsste er nicht so gut sein.“ Die britischen Unterdrücker kann er nicht leiden, bei den bayerischen Forschern schwankt er immer wieder im Verlauf des Buches: „Der Geist des Khansaman ist klein wie eine Linse. Er weiß nicht einmal, dass die Vickys längst die Sklaverei abgeschafft haben. Dies und das British Museum sind die einzigen bemerkenswerten Errungenschaften der Vickys.“ Die Sprache gefällt mir sehr gut, auch, wie Kloeble einen wahren Schatz an Wörtern und Gegebenheiten aus den verschiedensten Völkern dieses faszinierenden Kontinents einflicht und man merkt ihm an, dass er teilweise auch in Neu-Dehli lebt. Einige Begriffe kannte ich, viele auch nicht, aber mir wurde im Verlauf fast alles klar. Ein Glossar und eine Karte, die die Reiserouten der Schlagintweits abbildet, wären dennoch schön gewesen. Bartolomäus erklärt, wenn er es für angebracht hält. Vieles ist ihm so vertraut, dass er es eben nicht tut. Wir sehen die Welt durch seine Augen. Auf zwei Seiten kommt dann doch noch ein Schlagintweit zu Wort. Da zitiert er die rassistischen Ansichten von Imanuel Kant – ein Umstand der bei dessen Rezeption häufig vergessen wird – und damit auch das N-Wort. Allerdings gibt es eine klare Opposition zu dessen Rassenlehre, sogenannte Rassenforschung haben sie dennoch betrieben. Im historischen Kontext fand ich diesen Hinweis auf Kant wichtig, aber dennoch verstehe ich, wenn schwarze Menschen diesen rassistischen Begriff nicht repetiert sehen wollen. Generell finde ich in diesem Zusammenhang angebracht: CN / Content Note: Rassismus, Gewalt, sexualisierte Gewalt gegen Kinder Inwieweit Bartolomäus’ Aussagen über die verschiendenen Religionen, Völker und Kasten Indiens auch eine:r Inder:in entsprechen würden, mag ich nicht einzuschätzen. Aber Kloeble geht es um die Demontage von „unseren“ weißen Helden und das gelingt ihm eindrucksvoll. Denn obwohl die Schlangintweits noch einige Jahre, bevor Deutschland selbst Kolonien „besaß“, in Indien waren, haben auch sie als Teil der Kolonialpolitik das Land verändert. „Jedes Objekt einer wissenschaftlichen Untersuchung verändert sich, wenn es betrachtet wird, sagte er. Eigentlich kann Indien nur jemand neutral beurteilen, der niemals hier war. Aber das ist unmöglich sagte ich. In der Tat. Weil wir hier sind, verändern wir Indien. Und so wird Indien zu einem Ort, der er nicht sein würde, wenn wir nicht hergekommen wären.“ Manchmal war das Buch so wundervoll und klar, gerade, dass hier Übersetzen – die Aufgabe die Bartolomäus zumeist erfüllt – oftmals in einem übertragenen Sinne benutzt wird. Manchmal fand ich die Inhalte im Kontext, dass er von einem Deutschen geschrieben ist, dennoch schwer zu dechiffrieren, obwohl sich der Roman flüssig liest. Manchmal war mir der Stil sogar etwas zu ausschweifend. Und dann geht es um Väter, ideelle Väter, Söhne und Brüder. Das ist die Zeit und die Welt der Männer und auch Teil der Helden-Demontage. Denn es diese Verehrung, die resultiert eben auch aus falschen Männlichkeitsidealen. Dennoch ist mir immer wieder aufgefallen, dass es eben nur eine wirkliche Frauen-Figur im Buch gibt. Aber es gibt auch mehrere Passagen, die sich auf die schlechte Stellung der Frauen in Indien beziehen – und dass die Engländer diese teilweise sogar verbessern wollten. Das fand ich sehr eindringlich geschildert. Und dann sollte man sich meiner Meinung nach nicht von dem Begriff „Abenteuerroman“ irreführen lassen, der im Klappentext steht, auch, wenn die Geschehnisse in „Das Museum der Welt“ abenteuerlich sind. Es geht um eine Verortung der Identität und dessen, was Kolonialisierung bedeutet. Fazit Ein Waisenjunge wird zum wahren Entdecker des ersten indischen Museums – in Form seiner Selbst. Vor dem historischen Hintergrund der Indienexpedition der bayerischen Gebrüder Schlagintweit Mitte des 19. Jahrhunderts wird auch deutlich, wie viel die weiße Kolonialisierung zerstört hat und eine einfühlsame Reflexion über Identität. Manches fand ich schwierig zu dechiffrieren, manchmal war es mir zu ausführlich. 4 von 5 Sternen und eine Leseempfehlung.