SternchenBlau
Das allmähliche Verschwinden der Sprache und der Menschen Sprachlich ist „Dankbarkeiten“ wunderschön und Delphine de Vigan setzt die fortschreitende Aphasie von Michka grandios um. Aphasie ist eine der Erkrankungen, die ich persönlich am meisten fürchte, daher hat mich das Buch sofort gereizt. Und dann noch das Thema: Wir alle sind ja damit konfrontiert, dass Menschen nach und nach von uns gehen. Hier passiert es zusätzlich noch auf der Ebene der Sprache. „»Können Sie mir sagen, wo Sie sind, Madame Seld?« »Im Wohnzimmer.« »Sind Sie verletzt?« »Nein, aber … Ich verliere gerade.« »Sie haben etwas verloren?« Michka klammert sich noch fester an die Armlehnen, ihr ist, als würde der Sessel unter ihrem Gewicht schwanken, aber vielleicht verliert sie auch gerade den Boden unter den Füßen. Sie antwortet nicht.“ Michka kann nicht mehr alleine leben und kommt in ein Pflegeheim. Die Geschichte wird bis auf einige Einschübe, in denen Alpträume von Michka geschildert werden, aus der Sicht ihrer Ziehtochter Marie und ihres Logopäden Jérôme Sicht erzählt. Irgendwie hat mich gestört, dass wir so über Michka sprechen, obwohl sie doch auch in den Dialogen mit den beiden noch so viel erzählt. Das fühlt sich irgendwie an, als würde ihr das Buch die Repräsentanz nehmen. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum mich das Buch nur manchmal tief berühren konnte. Bitte nicht falsch verstehen, ich habe es sehr gerne gelesen, aber trotz des hochemotionalen Inhalt fühlte ich mich die meiste Zeit eine Distanz zu den Figuren. Vielleicht habe ich auch einfach zu viel erwartet, weil ich im Vorfeld einige sehr begeisterte Stimmen gehört habe. Und dann waren wieder diese Stellen, die einfach so passend, so stimmig, so wundervoll waren: „Ich schiebe den Block vor sie und gebe ihr einen meiner Bleistifte. Ich weiß, dass sie weder Kulis noch Filzschreiber mag. Sie möchte ausradieren und neu anfangen können.“ Und dann war mir der Schluss etwas zu schnell abgehandelt. Nur mit einem Satz wird erklärt, warum Marie die Suche nach dem Paar, die Michka vor den Nazis versteckt habe, nicht stärker vorangetrieben hat. Ich würde ja noch einen anderen Grund vermuten, aber der wird überhaupt nicht behandelt. Und dann hatte das Ende für mich fast einen Anflug von Kitsch. Den Stil von de Vigan finde ich wundervoll. Das ist sicherlich nicht das letzte Buch, das ich von ihr lesen werde. Fazit Von der Autorin will ich noch weitere Bücher lesen, weil ich ihre Sprach wunderschön finde. Das Buch konnte mich aber nicht vollständig berühren, daher schwanke ich zwischen 3 und 4 Sternen. Weil ich das Ende zu überstürzt fand, runde ich die 3,5 Sterne ab.