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anne_hahn

Posted on 28.5.2020

Ich liebe die Einsamkeit, die Wildheit, die Schönheit. Doch der Ozean und ich würden uns viel besser verstehen, wenn er nicht ständig versuchen würde, zu mir ins Boot zu kommen. Und wenn er nicht so einschüchternd, manchmal gar überwältigend groß wäre. Dieser Tage bringt der Dumont-Verlag einen auf Kante geschnittenen, länglichen Bildband mit hellblauem Leinenrücken heraus - schon von außen ein Fest! Das Buch des Meeres beginnt unvermittelt und hört nicht mehr auf, auf 305 Seiten sind Ausschnitte aus Tage- und Skizzenbüchern von Seefahrer*innen wiedergegeben. Blättert man in diesen alphabetisch von Georg Anson (1697-1762) bis William Wyllie (1851-1931) geordneten, zwei bis vier Seiten umfassenden Abschnitten, fallen zuerst die Bilder ins Auge. Die rechte Seite und mitunter eine ganze Doppelseite sind farbig reproduzierte Skizzen, Aquarelle, Tagebuchseiten oder Collagen. Viele Arbeiten stammen von Künstlern, welche zur See fuhren, andere von Matrosen, Offizieren, (als Männer) verkleideten Ehefrauen oder Soldaten - die Palette atemberaubender Geschichten ist immens in diesem ungewöhnlichen Buch. Was bedeutet es also, eine Seereise zu machen? In ihrer einfachsten Form ist damit eine Fahrt auf dem Meer gemeint, von einem Punkt auf dem Festland zu einem anderen. Früher ging es dabei oft um Entdeckungen, um das Erkunden von Unbekanntem aller Art. Neben der Neugier auf das Unerforschte spielte bei den Entdeckungsreisen auch eine gewissen Abenteuerlust eine Rolle [...] Auch heute hat der Ausdruck "Abenteuer" für uns verschiedene Dimensionen: ein riskantes Unterfangen mit ungewissem Ausgang, eine aufregenden Folge einzelner Vorkommnisse, eine wirtschaftliche Spekulation. Historische Seereisen waren meistens eine Kombination aus allem. Seefahrer brachen auf, um etwas zu wagen, zu erleben, und sie brachten bei der Rückkehr Belege von erstaunlichen Dingen mit. In seiner Einleitung Unbekannte Gewässer fasst der Polarreisende, Entdeckungshistoriker und Autor dieses Buches Huw Lewis-Jones dergestalt zusammen, was uns erwartet. Ich wurde auf keiner Seite enttäuscht. Da sind die Zeichnungen von Meermädchen, Schatzinseln und Seeungeheuern. Da ist die Geschichte der ersten (nachgewiesenen) Weltumseglerin Jeanne Baret (1740-1807), welche anderthalb Jahre lang vor 115 Mann Besatzung ihr Geschlecht verbergen konnte. Sie reiste, verkleidet als Kammerdiener ihres Geliebten, des Botanikers Philibert Commerson, in seiner Kabine auf dem Versorgungsschiff der Expedition Bougainvilles mit. Auf Tahiti wurde Jeanne Baret enttarnt, durfte weiterhin an Bord bleiben, bekam im heutigen Mauritius einen Posten im Botanischen Garten angeboten und kehrte vier Jahre später nach Frankreich zurück, wo sie auf Fürsprache Bougainvilles eine jährliche Pension erhielt. 150 Jahre später steigt eine Frau im roten Badeanzug vor den Bermudainseln eine Metallleiter hinab ins Meer. Eine kupferne Taucherglocke lastet schwer auf ihren Schultern, unter ihr liegt ein Tal aus weißem Sand mit sich wiegenden Seefedern und rotem Seefarn. Zehn Meter unter der Meeresoberfläche liegt ihr Märchenland, wie die Künstlerin Else Bostelmann (1882-1961) später schrieb. Gebannt zeichnete sie die Lebensformen um sie herum mit einer Stahlnadel auf einer Zinkgravurplatte. Alles unter Wasser auf diese Weise einzufangen war ein schwieriges Unterfangen, und sie durfte ihren Kopf nicht neigen, sonst wäre die Taucherglocke heruntergefallen - und mit ihr die Sauerstoffzufuhr; trotzdem kehrte sie immer wieder in die Tiefe zurück. Bei mehreren aufeinanderfolgenden Tauchgängen wurde ein eiserner Notenständer auf den Meeresboden heruntergelassen, an den Else Bostelmann eine Leinwand und eine bleibeschwerte Palette mit Ölfarbe band, sowie Pinsel, die mit den hölzernen Griffen nach oben im Wasser schwammen und leicht an den Fäden zogen. Was auf diese Weise vor knapp neunzig Jahren entstand, ist im Buch des Meeres auf fünf Abbildungen zu sehen, zwei davon haben einen schwarzen Hintergrund, alle zeigen bezaubernd zartgliedrige Tiefsee-Monster, die trotz schrecklich langer Zähne an tanzende Papierdrachen erinnern. Ein anderer Künstler, dessen Seelöwenzeichnungen und Indigenen-Porträts mich sehr berühren, ist Louis Choris (1795-1828). Die Aquarelle sind behutsam koloriert, die Gesichter ruhig und stolz, mit Tattoos und Piercings geschmückt, während die Seelöwen unruhig, wie fotografisch gebannt auf mich wirken. Choris nahm als offizieller Zeichner an der Rurik-Expedition Otto von Kotzebues teil, welche eine Nordwestpassage für russische Handelsposten suchte. Von Sankt Petersburg durch den Pazifik, nach Kamtschatka, durch die Beringstraße, über die Aleuten bis nach Kalifornien und Hawaii führte die dreijährige Reise, hunderte Aquarelle entstanden. Einige Jahre später brach Choris gen Südamerika auf, wurde dort von Banditen überfallen und getötet. Auf der Verlagsseite kann man in der Leseprobe einige Seiten des Buches anschauen, auch die comic-haften Zeichnungen des englischen Soldaten William Coates (1865-1917), welcher im 1. Weltkrieg an Bord des Minenräumers Clacton in der Ägäis diente und später Kommandant eines Mystery Ships wurde - das waren Dampfer, welche deutsche U-Boote an die Oberfläche lockten und angriffen, am 15 Juli 1917 kam Coates mit 43 Leuten seiner Besatzung beim Angriff gegen das U-Boot UC-38 ums Leben. Seine Skizzenbücher wurden gerettet und wir können uns heute ausmalen, wie Coates dem Krieg entfloh, wenn er deutsche Flugzeuge als monströse Vögel zeichnet, oder die Kapitänskajüte seines Dampfers Clacton als Fregattenkajüte, sowie sich und seine Kameraden als Freibeuter, welche nach Kriegsende ihre Schätze auf der Insel Tortuga verstecken.

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