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wandanoir

Posted on 27.5.2020

Was bringt uns dieser Roman? Vor ungefähr drei Jahren hab ich von Richard Russo mit Begeisterung „Ein Mann der Tat“ gelesen, einen Roman, in dem es um das Kleinstadtleben geht, mit allen Höhen und Tiefen desselben. Eigentlich hätte ich zuerst den Vorgängerband „Ein grundzufriedener Mann“ lesen müssen. Das hole ich bald nach, es lohnt sich, versprochen, auch wenn diese Romane eigentlich schon alt sind (1993 und 1998 im Original erschienen; übersetzt erst viel später). Aber veralten denn gute Bücher? Nein. Niemals. Also lest diese beiden Bände! Langer Rede kurzer Sinn, ich habe wegen der vorhergehenden Begeisterung von dem neuesten Roman des Autors „Jenseits der Erwartungen“ (Originaltitel: Chances are) viel erwartet. Drei ältere Männer, Teddy, Lincoln und Mickey halten auf Martha’s Vineyard eine Art Klassentreffen ab. Lange haben sie sich nicht gesehen. Aber einst waren sie best friends, Kumpels, Kommilitonen am Minerva. Und alle waren in die gleiche Frau, in Jacy, verschossen. Nach einem gemeinsamen Wochenende, 1971, zum Studienabschluss auf Martha’s Vineyard verbracht, ist Jacy jedoch spurlos verschwunden und niemals wieder aufgetaucht. Als sich die Männer vierzig Jahre später wieder treffen, selber Ort, selbes Szenario, fragen sie sich unwillkürlich, ob einer von ihnen sie umgebracht hat, damals, und Jacy die Insel niemals verlassen hat. Kann das wirklich sein? Kennt man sich so wenig, dass so etwas möglich ist? Auf diese Gedankenreise nimmt der Autor den Leser geschickt mit. Doch, das macht er gut, und deshalb lohnt sich auch dieser Roman, zu lesen. Dennoch ist viel zu kritisieren. Die Kritik: Die Biografien von Teddy und Lincoln, die der Autor vor uns in aller Ausführlichkeit auszieht, sind durchaus nachvollziehbar und nicht uninteressant, beide laborieren an einem Elternproblem, das ihr Leben überschattet und geformt hat. Beide Männer sind Denker. Immer wieder wird die Frage nach dem Zufall gestellt, nach dem Schicksalsfunken. Nach dem einen Faktor, der alles bestimmt hat. Wenn dies nicht gewesen wäre, was dann. Wenn etwas anderes gewesen wäre, was dann. Das Faktum, dass uns Gelegenheiten und Begebenheiten prägen, ist jedoch ein alter Hut, sogar ein sehr alter, sehr ausgebeulter Hut. Darüber muss man nicht seitenlang nachdenken: Also eher Langeweile. Obwohl Russo die Biografie seiner beiden Figuren mit abwechslungsreichen Details versieht, kann ich Lincoln und Teddy kaum auseinanderhalten. Und das verzeihe ich nicht! Die Schreibweise bleibt immer dieselbe, was auch über die Männer erzählt wird, da verändert sich nichts, es ist derselbe Stil, dieselben Stilmittel, ob der Autor über die eine Figur oder über die andere schreibt, die beiden denken vor sich hin, aber sie treten nicht aus dem erzählerischen Schatten Russos heraus, sie sind und bleiben Fiktion! Eher sogar Phantom. Ein wenig anders ist es mit der dritten Figur, mit Mickey, dem Bandleader. Er ist charaktervoller. Man sieht ihn. Doch er verhält sich ziemlich schablonenhaft. Seine Geschichte ist bedeutungsschwer, aber ein Klischee! Und die weiblichen Figuren, Anita und Jacy, und einige Mütter, sie verblassen ganz. Sie haben eine erzählerische Funktion, natürlich, aber kein Eigenleben. Empathie: Man fühlt mit niemanden. Man hört zu. Gut. So war es also. So what? Der Roman „Jenseits der Erwartungen“ ist systematisch, logisch, gut aufgebaut, man erkennt die Herangehensweise eines routinierten Autors. Es hat seinen Sinn, dass und wie lange man sich mit den einzelnen Figuren beschäftigt und dass Mickey als letzter seinen Auftritt hat. Aber dieser Roman hat keinen Glanz. Es fehlt ihm etwas. Es fehlt ihm der Humor, der Esprit und die genialen Charakterzeichnungen, die mich bei dem Roman „Ein Mann der Tat“ so begeistert haben. Fazit: Ein blasser Roman. Der mit einer anderen Erzähltechnik und stärkeren weiblichen Figuren vielleicht hätte brillant werden können. Vielleicht aber auch nicht. Die Thematik, verschwundene Frau auf Insel, ein Geheimnis, und was prägt uns, ist leider vollkommen ausgelutscht. Der vielgepriesene Tiefgang wird versucht, hat aber ausser Binsenwahrheiten nichts zu bieten. Kateorie: Gute Unterhaltung Verlag: Dumont, 2020

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