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Buchstabengeflüster

Posted on 25.5.2020

(Rezi aus 2012) Charaktere: Die Jugendliche Gemma ist eine starke Persönlichkeit. Sie sieht ihre Situation total realistisch und handelt rational. Sie verspürt Angst, als sie nach der Entführung zu sich kommt und ihren Entführer Ty hört, ist aber nicht gelähmt durch dieses Gefühl. Als Gemma stark genug und von den Tabletten nicht mehr geschwächt ist, schlägt sie auf ihn ein, versucht ihn zu verletzten und sich somit zu wehren. Sie ist anfangs vorsichtig, versucht Dinge im Haus zu finden, um zu erfahren wo sie ist und sich eventuell befreien zu können. Gemma startet auch einige Fluchtversuche. Ich finde, sie verhält sich genau so, wie ein normaler Mensch reagieren würde, wenn er entführt und „eingesperrt“ werden würde und nur noch von dieser einen Person abhängig ist. Später, als Gemma Tys Geschichte erfahren hat, bringt sie Verständnis für ihn auf – nicht dafür, dass er sie entführt hat; aber dafür, dass er nicht mit dem Geschehenen umgehen und es verarbeiten kann. Ty ist nur ein paar Jahre älter als Gemma. Er hatte eine außergewöhnliche und schwere Kindheit sowie Jugend, die ihm zu dieser Person gemacht haben, wie er heute ist und ihn dazu veranlasst hat Gemma zu entführen. Er ist eigentlich clever und gut gebildet, da er das Versteck mit deren Wasserzufuhr sowie die geringe Stromversorgung selbst gebaut hat und auch gewisse medizinische Vorkehrungen trifft. Auch bei der Organisation der Entführung hat er nichts dem Zufall überlassen. Ty verhält sich Gemma gegenüber sehr nett und versucht ihr auch den Aufenthalt so angenehm wie möglich (und soweit es aus seiner Sicht geht) zu gestalten. Selbst als er sich am Ende des Buches in einer gewissen „Gefahr“ befindet, ist er für Gemma da und lässt sie nicht alleine. Ich glaube, im Grunde genommen ist Ty ein sehr angenehmer Charakter, nur dass er eben keine „normale“ Kindheit erleben durfte und dadurch nachhaltig beeinflusst wird. Meine Meinung: Lucy Christopher hat ihren Debütroman aus Sicht von Gemma geschrieben, die diesen Roman als Brief an ihren Entführer schreibt. An die „Du“-Form hat man sich sehr schnell gewöhnt und bekommt so Gemmas Gefühle mit. Der Leser erfährt Schritt für Schritt mit ihr, wer sie entführt hat, warum dies geschehen ist und wo sie sich befindet. Der Roman ist in keine Kapitel unterteilt, d. h. die Geschichte wird fortlaufend erzählt. Dies stört jedoch nicht wirklich, da es viele Absätze gibt, die die einzelnen Tage und Geschehen voneinander trennen. Die Autorin verwendet nur kurze Sätze und kaum Nebensätze. Es sind auch sehr viele Ellipsen im Roman enthalten, wodurch es einem erscheint, als kommen die Gedanken und Erkenntnisse von Gemma sprunghaft - nach und nach. Sehr kurze und prägnante Schilderungen ermöglicht es dem Leser sich besser in Gemma hineinversetzten zu können und somit das Geschehen gut nachzuvollziehen. Der Leser empfindet die Situationen so als stünde er neben Gemma oder wäre sie selbst. Hier ein Beispiel: „Irgendwann liefen wir wieder. Ein anderer Flughafen, vielleicht. Noch mehr Leute. Der Duft von Blumen, süß, exotisch und frisch; als hätte es eben erst geregnet. Und es war dunkel. Nacht. Aber nicht kalt. Auf dem Weg durch ein Parkhaus wurde ich langsam wach. Ich begann mich zu wehren. Ich versuchte zu schreien, aber du schlepptest mich hinter einen Laster und presstest mir einen Lappen auf den Mund. Da sank ich zurück in deine Arme. Danach erinnerte ich mich nur noch an dieses gedämpfte Rütteln und Schlingern auf der Autofahrt. Der Motor brummte endlos immer weiter.“ S. 18f Das Stockholm Syndrom ist sehr verständlich und nachvollziehbar geschildert. Gemma baut nach der anfänglichen Angst und damit verbundenen Reserviertheit, nach und nach eine Beziehung zu Ty auf. Da dieser auch relativ freundlich erscheint, bildet sich ein engeres Verhältnis zu ihm als es zu einem groben, unfreundlichen und gewalttätigen Entführer wäre. Dabei kann man sich sehr gut in Gemma hineinversetzen und entwickelt so wie sie eine gewisse Nähe zu Ty. Im Bezug auf Emmas Handeln am Schluss des Romans habe ich mir immer wieder gedacht „Nein, warum tust du das? Du willst das doch eigentlich gar nicht. Ty ist doch total nett! Naja, abgesehen von der Entführung – aber trotzdem!!“ Die Autorin hat es sehr gut geschafft, dass der Leser von Ty fast nur positiv denkt und auch Gemmas Gefühle zu ihm versteht. Einzig das Ende hat mich ein bisschen gestört, weil ich das Gefühl hatte, als wüsste die Autorin keinen Ausweg aus der Entführung und kann nur dieses eine mögliche Ende wählen. Ich war etwas enttäuscht, da es ein einfaches Ende war und keinerlei Konflikt auftrat. Fazit: „Ich wünschte ich könnte dich hassen“ wurde sehr einfühlsam geschrieben. Zu jedem Augenblick musste man weiterlesen, weil man wissen wollte wie sich die Entführung weiterentwickelt. Ein ernstes Buch über die Beziehung zwischen dem Entführer und seinem Opfer, in dem der Leser das Stockholm-Syndrom sehr leicht nachvollziehen kann.

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