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daslesendesatzzeichen

Posted on 24.5.2020

Selten habe ich ein Buch mit einem so lakonischen, entspannend unaufgeregten Ton gelesen, wie „Ein ganzes Leben“ von Robert Seethaler. Auf ausdrücklichen Wunsch, Lieblingsbücher der Freunde zum eigenen Geburtstag zu erhalten, bekam ich dieses österreichische Schmankerl geschenkt. Ein recht schmales, äußerst schlichtes Büchlein mit passend unauffälligem (dennoch schönem) Cover. U-4-Texte zu zitieren langweilt meist, denn diese Zeilen könnt Ihr ganz leicht selbst rasch nachlesen, dennoch will ich es nun einmal tun, denn die vier knappen Zeilen bringen das Buch so sehr auf den Punkt, dass ich danach schon fast Schluss machen könnte mit der Rezension: „Ein Dorf in den Alpen, ein Alltag voller Entbehrungen, das Staunen über die Momente des Glücks – die Geschichte eines Lebens.“ So ist es. Das Anrührende an Seethalers Buch und seinem ganz eigenen Stil ist, dass er nichts anderes tut, als ein durch und durch unspektakuläres Leben eines gänzlich beliebigen Menschen herauszupicken und es unter die Lupe zu nehmen. Jedoch tut er dies nicht, wie das sonst so oft geschieht, aus psychologischer Perspektive, analysierend, bewertend oder sonstwie mit Anmerkungen garniert. Seethaler ist wie ein Dokumentarfilmer, der danebensteht, wenn die Katastrophen des Lebens kommen, der sie notiert, wahrnimmt, aufzeichnet, der jedoch nicht verändernd eingreift. So beschreibt Seethaler das Leben des Andreas Egger, der als kleiner Junge Anfang des 20. Jahrhunderts mutterseelenalleine in dem Bergdörfchen abgegeben wird bei seinem Onkel. Dieser hat nicht nur kein Interesse, er ist auch noch äußerst gewaltbereit im urchristlichen Sinne. Er züchtigt das arme Kerlchen gern brutal mit einer Haselnussgerte, schickt aber ein gottergebenes „Herrgottverzeih“ hinterher. Man kann es sich so leicht machen … Der kleine Egger ist jedoch ein zähes Bürschchen, das es auch ohne Nestwärme schafft, am Leben zu bleiben. Die Blöße, zu schreien, ob der Schmerzen, die ihm der Bauer zufügt, würde er sich nie geben. Leider spornt das den Landwirt nur noch mehr an. Als er ihm eines Tages beim Prügeln einen Knochen bricht, hat Egger Glück, dass der Nachbarsort mit einem patenten Kerl aufwarten kann, der der „Knochenrichter“ genannt wird. Auch Eggers Knochen werden „gerichtet“ und der Bub muss viele Wochen auf einem Strohsack in der Dachkammer zubringen, ehe er sich wieder bewegen darf. So ganz passen die zwei Knochenhälften nicht mehr zusammen, der Junge ist fortan ein wenig krumm und schief – doch er lebt und kann wieder gehen. Und so selbstverständlich, wie dieses Elend erzählt wird, so werden auch die schönen Momente gleichbleibend unemotional erzählt. Wenn Egger zum Beispiel älter wird und auf seine Marie trifft. Es ist so fein und zart, was da zwischen den beiden passiert und Seethaler schafft es, in seiner nüchternen, knappen Art so wunderschön dieses Gefühl der Liebe zu transportieren, zwischen den Worten entstehen zu lassen – man kann nur staunen. Es ist kein Fabulieren, es ist … zauberhaft! Der kleine Egger lebt trotz vieler Widrigkeiten ein sehr langes Leben – das hätte er wohl selbst am wenigsten erwartet, begann es doch so unwirtlich und lieblos. Er durchlebt viele Tiefen, gräbt sich aber aus allen Löchern, in die er fällt, unnachgiebig heraus. Er kann nicht anders. Der Mensch ist eine Maschine, die läuft, wenn sie laufen muss. Es wird nicht viel nachgedacht, darüber, was wäre wenn – trotz Kummer und Trauer macht man weiter. Das ist herzzerreißend manchmal, das gibt aber auch Mut. Denn es zeigt auf ganz banale Weise, dass es doch immer weiter geht. Nicht so, wie geplant, aber anders. Nicht jeder Schicksalsschlag muss gleich ein Weltuntergang sein. Fürs Drama hat man weder Zeit noch Muße. Das ist wenig intellektuell, aber vielleicht manchmal auch okay. Egger jedenfalls beklagt sich nicht. Er ist lebensklug, steht „mitten im Leben“, will heißen, er kann sich dem Lauf der Dinge anpassen und so überleben. Er kennt Liebe, Trauer, Wut, Hass, Glück, Freude, Regen, Sonne – und die Berge! Immer wieder die Berge! Die sind seine Heimat, sein Fundament, sein Leben. Mit dem Buch endet auch Eggers Leben bzw., so die Logik für uns Leser, das Buch endet WEIL Eggers Leben schließlich endet. Man muss ein wenig innehalten, wenn man die letzte Seite gelesen hat, als müsse man dem Nachhall ein wenig Raum geben, den die Geschichte hinterlässt. Ein so kleines Lichtlein, dieser Andreas Egger, und dennoch eine so hinreißende Geschichte. Ein großartiges Buch, das zu lesen ich jedem ans Herz legen möchte. Es ist Entschleunigung pur, eine Art Lese-Meditation. Großartig!

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