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daslesendesatzzeichen

Posted on 24.5.2020

“Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl“, singt schon Herbert Grönemeyer in seinem wundervoll melancholisch-betörenden Lied „Heimat“. Ja! Aber irgendwie auch nein! Auf jeden Fall, da hat er recht, ist Heimat ganz, ganz emotional aufgefüllt – daher: Ja! Ein Gefühl! Aber auch nein zu „Heimat ist kein Ort“, denn für mich ist die Emotion tatsächlich ganz stark an den Ort geknüpft. Komischerweise ist es so, dass ich mich zum Beispiel sehr freue, wenn ich in meine alte Heimat komme, also an den Ort, an dem ich die ersten 19 Jahre meines Lebens aufwachsen durfte. Aber der heutige Ort an sich reizt mich nicht, es ist der Ort, der er vor vielen Jahren war, der mich reizt, ein Ort, den es genau so gar nicht mehr in der Realität gibt, nur noch in den Köpfen meiner alten Freunde und mir. Wenn ich hingegen aus dem platten Hamburger Umland an meinen geliebten Chiemsee und in mein nicht minder geliebtes München komme, dann fühle ich, wie mir das Herz aufgeht, ein warmer, melancholischer Gefühlsstrom sich seinen Weg durch mein Innerstes bahnt und in meinen Magen fährt. Glück, dass es irgendwo auf der Welt so schön sein kann, gepaart mit dem Schmerz, dass ich nicht immer dort sein kann. Komische Gefühlsmischungen gibt es! Und würde ich wieder dort leben, das weiß man ja aus Erfahrung, würde sich dieses wunderbare Gefühl im Alltagstrott verlieren, würde ertrinken im täglichen Hektikrausch, im Hin- und Hergerenne zwischen U-Bahn und Arbeitsstätte. Der Blick für die Schönheit würde dem Genervtsein weichen, alles würde wieder durch die Normalität und Gleichförmigkeit verwaschen werden. Was also ist Heimat? Für jeden etwas anderes? Eine Deutsche in der Fremde hat sich dem Begriff angenähert. Nora Krug, Amerika-Auswanderin der ersten Generation, lebt in Brooklyn, kommt aber ursprünglich aus Karlsruhe. Ihr Buch „Heimat“ trägt den Untertitel „Ein deutsches Familienalbum“, der schon vorwegnimmt, was glasklar wird, wenn man das Buch genauer betrachtet: Hier wird zwar eine Geschichte erzählt, aber nicht auf „normale“ Weise. Dies ist kein durchschnittliches Buch. Die Professorin für Illustration stürzt sich voller Farbfreude und Ideenreichtum in die Gestaltung der einzelnen Seiten. Hier wird zwar linear eine Geschichte erzählt, doch wird sie nicht in Blocksatz in Times New Roman gezwängt, sondern sie wird in tagebuchähnlicher Manier mit Bildern, Erinnerungsstücken (einer abfotografierten Haarlocke, einem Edelweiß etc.) oder Fotos geschmückt, handschriftlich fixiert und farblich unterlegt. Krug möchte in erster Linie herausfinden, was genau ihr Großvater getan oder nicht getan, was er eventuell grob fahrlässig unterlassen hat in der schwärzesten Zeitspanne, die unsere jüngste deutsche Geschichte zu bieten hat: vor und während des Zweiten Weltkriegs. Sie möchte ihrem viel zu früh verstorbenen Onkel näherkommen, der nur 18 Jahre alt war, als er als Soldat fiel. Diese Lichtfigur, die so verherrlicht wurde und die ihren eigenen Vater prägte, obwohl sich die Brüder nie kennenlernten … Krug geht auf Reisen: gedanklich und körperlich. Sie unterhält sich mit Zeitzeugen, sie sammelt Fundstücke aus der Vergangenheit auf Flohmärkten, stellt sich vor, dass solche materiellen Zeitzeugen auch ihre Vorfahren benutzt haben dürften. Sie geht los, stellt Fragen, auch unbequemer Art, stellt sie nicht nur Fremden, sondern auch der eigenen Familie, den Eltern. Sie versucht Dinge aufzudecken, die unter den Teppich gekehrt wurden, sie ist unbequem, „schnüffelt“ herum. Sie reist in ihre schwäbische Heimat, spricht mit Heimatforschern, geht sogar ins Landesarchiv in Karlsruhe und lässt sich die Spruchkammerakte über ihren Opa Willi heraussuchen. Warum macht sie all das? Weil sie mittlerweile in einem anderen Land, ja sogar einem anderen Kontinent lebt. Weil es ausgerechnet das Land ist, in das während des Zweiten Weltkriegs sehr viele Nazigegner geflohen sind. Sie lebt in einem Land, in dem ein deutscher Akzent von einer bestimmten Generation noch immer skeptisch zur Kenntnis genommen wird. Krug ist verheiratet, ihr Mann ist jüdischen Glaubens. Ihr Umfeld gibt ihr Impulse, nachzuforschen, was die ganz persönliche Geschichte ihrer Vorfahren im dunklen Nazikapitel war. Das Buch macht trotz unbequemer Thematik große Freude, es ist ein wahrer Augenschmaus, ein Fest für die Sinne – und nebenbei auch Wissensfutter. Krug bereitet wunderbar fantasievoll jede einzelne Seite auf, jedes Umblättern gleicht dem Öffnen einer Wundertüte: Permanent warten Überraschungen auf einen! Ein Buch, das die ganze Familie anschauen kann. Jeder findet auf seinem Niveau das, was er für sich herauspicken möchte. Frau Krug ist also im besten Sinne des Wortes ein „Familienalbum“ gelungen.

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