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mrstrikehardt

Posted on 21.5.2020

"Was begriffen wird, beruht nur auf der Analyse ex post. Insofern ergänzen Analyse und Erzählung einander, um unsere Urteilskraft zu schärfen, um überhaupt, in anderen Worten, mit der Sinnlosigkeit umgehen zu lernen." schreibt Reinhart Koselleck in https://mojoreads.com/book/Vom-Sinn-und-Unsinn-der-GeschichteReinhart-Koselleck/2238589 und diese Worte können auch über "Die unvollendete Geschichte und ihr Ende" stehen. Die Erzählung "Unvollendete Geschichte" wurde 1975 geschrieben und dreht sich um Katrin, die von ihren Eltern, Vorgesetzten und Funktionären beeinflusst und verbal unter Druck gesetzt wird, um sich von ihrem Freund Frank zu trennen, der brieflichen Westkontakt hat und sich somit per se verdächtig macht. Alle behaupten nur das Beste für Karin und die Gesellschaft zu wollen, aber es passiert fast das Schlimmste, Frank versucht sich das Leben zu nehmen ... Volker Braun zeigt Karin als starke und gleichzeitig zweifelnde Frau. Dieses Bild und sein Selbstbild revidiert er, nachdem er Stasi-Unterlagen eingesehen hat. Er schreibt "Das Ende der Unvollendeten Geschichte" (1996) und gibt hier Auskünfte über die Entstehungsgeschichte seiner Erzählung, über sein Schreibverfahren (konspirativer Realismus nennt er es) und über seine blinden Flecken. Er macht sich verantwortlich, dass er nicht einmal Karins IM-Tätigkeit in Betracht ziehen konnte. Ein Jahr später folgt ein knapper zweiseitiger Nachtrag, weil er wieder seinen Bild korrigieren muss. Diese drei Texte lesen sich in Summe mit Gewinn und sind ein "Glück" für die Literaturgeschichte, die immer auch eine Gesellschaftsgeschichte ist.

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