Profilbild von mabuerele

mabuerele

Posted on 19.5.2020

„...Die Amerikaner hassen uns, weil wir nicht in Häusern leben und sie uns deshalb nicht kontrollieren können. Die Taliban hassen uns, weil wir unsere Frauen nicht verschleiern und die Gebetszeiten nicht einhalten..“ Soraya lebt in einem kleinen Dorf in den Bergen Afghanistans. Sie gehört zum Volk der Paschtunen. Als siebtes Mädchen ihrer Eltern ist sie, einer alten Tradition zufolge, als Junge aufgewachsen, weil die Mutter nur Mädchen geboren hat. Sie nennt sich dann Samir. Das brachte ihr gegenüber den Mädchen des Dorfes eine ungeahnte Freiheit und die Möglichkeit, die Schule zu besuchen. Nun wartet sie wie jedes Jahr um diese Zeit auf Tarek. Der Junge gehört zum Nomadenvolk der Kuchi. Nach dem Winter kommen die Nomaden zum Handeln mit ihren Schafen in die Dörfer. Doch Soraya wartet umsonst. Der Autor hat einen spannenden Roman nicht nur für junge Leser geschrieben. Die Geschichte hat mich schnell in ihren Bann gezogen. Jeweils ein Kapitel über Sorayas Leben wechselt mit den Erzählungen über Tarek. Anfangs werden ich nicht nur mit dem Leben der beiden, sondern auch mit den politischen Verhältnissen konfrontiert. Das Eingangszitat beschreibt die Situation der Kuchi. Den Dorfbewohner allerdings geht es nicht anders. Mit Beginn der Dämmerung patrouillieren Taliban, um zu kontrollieren, dass die von ihnen aufgestellten Regeln eingehalten werden. Tagsüber müssen die Einwohner damit rechnen, von dem Amerikanern abgeholt und verhört zu werden. Für die Kuchi und ihre Schafherden gibt es ein weiteres Problem. Ashkan, Tareks Bruder, formuliert das so: „...In diesem Land gibt es mehr Minen als Menschen. Und wir Kuchi haben stärker darunter zu leiden als alle anderen...“ Es ist das Jahr der Entscheidungen. Einerseits verlangen die Taliban, dass Soraya ab sofort als Mädchen lebt und das Haus nicht mehr verlässt, andererseits wollen sie demnächst Tarek als Kundschafter und Fährtenleser rekrutieren. Beide Familien fällen die gleiche Entscheidung. Sie schicken ihre Kinder gen Westen. Beide darf ich auf ihren Weg über die Berge und das Meer begleiten. Sie gehören unterschiedlichen Flüchtlingsströmen an und machen deshalb nicht die gleiche Erfahrung. Doch sie finden Menschen, die ihnen zur Seite stehen und weiterhelfen. Sehr detailliert wird der Weg beschrieben. Dabei arbeitet der Autor heraus, dass es bei den Schleusern auch solche und solche gibt. Mancher tut alles, damit die Anvertrauten ihr Ziel erreichen. Andere nehmen das Geld und lassen die Menschen danach in Stich. Auch die Motivation, sich gerade für diesen Job zu entscheiden, wird thematisiert. Als Tarek das erste Mal das Meer sieht, liest sich dass so: „...Er schnupperte in der Luft. Das Wasser riecht nach Salz und nach etwas anderem, seltsam faulig. Tarek kennt den Geruch nicht, er weiß nicht, was er davon halten soll...“ Sehr gut gefallen haben mir die eingestreuten Märchen und Legenden der Kuchi. Außerdem wird schnell klar, das das Leben in Deutschland für die jungen Leute eine große Herausforderung ist. Tarek hat nie eine Schule besucht, das Leben in geschlossenen Räumen ist für ihn ungewohnt. Dafür ist er praktisch begabt und kann sehr gut mit Tieren umgehen. Soraya dagegen macht das Lernen Spaß. Die Geschichte hat mir ausgezeichnet gefallen. Der Autor hat in einer fesselnden Handlung den Bogen geschlagen vom Leben in der Heimat über eine abenteuerliche und gefährliche Flucht bis zur Ankunft in Deutschland. Und er hat dabei geschickt die politischen Ursachen in die Handlung integriert. Ein aussagekräftiges Nachwort und zwei Karten zum Fluchtweg ergänzen die Geschichte. Ich würde mir das Buch als Schullektüre wünschen, denn es kann helfen, Vorurteile zu abzubauen.

zurück nach oben