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SternchenBlau

Posted on 18.5.2020

Von Rehen und Menschen Den Namen Vicky Baum hatte ich immer mal wieder gelesen, wenn es um tolle Autorinnen ging, die leider ungerechtfertigter Weise vergessen wurde. Also stand sie auf meiner Leseliste, aber wie das immer so geht, habe ich dann viel zu lange doch nicht geschafft etwas von ihr zu lesen. Zum Glück kam dann die Wiederauflage von „Vor Rehen wird gewarnt“ und ich bin echt froh, dass ich diese Bildungslücke endlich auffüllen konnte. Obwohl Baums „Vor Rehen wird gewarnt“ bereits 1951 veröffentlicht wurde, schreibt sie so modern und auf den Punkt, dass sie (bis auf ein paar Ausnahmen) den Roman genauso gut hätte gestern schreiben können. (Rein formal funktioniert das, weil sie auch einen Großteil ihrer Geschichte eine Generation vor der Geschichte ansiedelt.) Ich habe lange gegrübelt, was ich zum Buch schreiben soll. Außer Titel und Klappentext wusste ich VOR meiner Lektüre nur, dass Baum hier keine sehr angenehme Protagonistin erzählt. Und für mich hat dieses Nichtwissen super gepasst, weil ich mich so komplett auf die Geschichte einlassen konnte. Daher will ich Euch nun einfach so von diesem tollen Roman vorschwärmen. Als bei den Fernsehserien immer mehr ambivalente, gebrochene Protagonisten aufgekommen sind, fiel mir irgendwann deutlich auf, dass das immer Männer sind: Die Toni Sopranos oder Walter Whites dürfen dieses ganze Klaviatur von Bösartigkeiten ausspielen und uns dabei trotzdem irgendwie ans Herz wachsen. Bei Frauenprotagonistinnen gibt es da ein Defizit, auch in der Literatur. Nicht, dass es keine bösen Frauenfiguren gäbe, aber diese Mischung aus Nähe und Abscheu fehlt. (Darum freue ich mich auch so auf „Meine Schwester, die Serienmörderin“). Wir brauchen aber einfach mehr Diversity und komplexe Frauenfiguren, die auch ihre dunklen Seiten zeigen dürfen, ist ein Baustein davon. Vicky Baum hat das bereits vor über 70 Jahren erfüllt. Obwohl sich Protagonistin Ann Ambros selbst nie als bösartig empfinden würde. Aber Schurken sind ja immer Heldinnen in ihrer eigenen Geschichte! Und Baum dreht auch nicht einfach die Rollen um, dass „Angelina“ einfach wie ein Mann agieren würde. Sie ist eine einzigartige, schillernde Persönlichkeit – der ich allerdings nicht im echten Leben über den Weg laufen möchte. Baum ist absolut stilsicher in Sprache, vor allem die Beschreibungen sind wundervoll: „Auch Joy hatte die Augen geschlossen, um das Bild der Stadt, die jenseits der Bay hinter ihnen zurückblieb, besser festzuhalten: Die vielen sich überkreuzenden Bilder von San Francisco bei Sonnenuntergang. Zuweilen, wenn ein harter Wind den Nebel in grauen Fetzen dahinjagte und ein metallisches Licht auf den Wohnhäusern der Hügelkämme und den zackigen Wolkenkratzern der Geschäftsviertel lag, verwandelte sich die Stadt in etwas Trotzig-Dunkels, El Greco Toledo. Manchmal wieder war sie in zart angedeuteter japanischer Holzschnitt, Inseln und Küsten und Berge, hintereinander aufgeschichtet in immer dünneren Konturen, im leuchtenden Dunst verschwimmend.“ Umweltbeschreibungen und Innenleben gehen bei ihr Hand in Hand. Die Schilderung von San Francisco hat mich an „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos erinnert. Aber was ich bei ihm bei meiner Lektüre vor gut 20 Jahren als zu überladen und manieriert empfand, hat bei Baum genau das richtige Maß. Ich tauche ein in die Stadt und in die Protagonistin und beides hat Licht und Schatten und ich genieße beides. Ja, es gab auch einige Schwächen. Im Mittelteil hätte es für mich ein wenig flotter gehen können, es gibt an ein, zwei Stellen Zuschreibungen für das weibliche Geschlecht, die ich nicht mehr ganz zeitgemäß finde, aber hier ist der Roman dann halt doch einfach 70 Jahre alt. Und „Vor Rehen wird gewarnt“ spielt in einer komplett weißen Welt, was aber die Schicht der Figuren widerspiegelt. Baum flicht einige Ressentiments gegenüber Juden ein, mit feiner Selbstirionie, war sie doch selbst Jüdin. „Vor Rehen wird gewarnt“ ist ein Beispiel mehr, welche tolle Künstlerin Europa durch die Nazigräuel verloren ging. Baum hat nach ihrer Emigration aus Deutschland 1932 nur noch auf Englisch geschrieben. Habe ich schon geschrieben, dass ich „Vor Rehen wird gewarnt“ mit Begeisterung gelesen habe? Und dazu hat mich noch das Ende richtig überrascht. Begeisterte 5 von 5 Sternen.

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