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Schattenwege

Posted on 17.5.2020

Manchmal ist das Leben so. Du triffst Leute, denen du nichts vormachen kannst, denen du einfach vertraust, auch wenn du sie kaum kennst. (Seite 42) Dass die Schulzeit für manchen leichter ist als für andere, dürfte kein Geheimnis sein. Die Protagonisten in "Das Jahr in der Box" gehören eher zur zweiten Gruppe, was in diesem Roman eindrucksvoll dargestellt wird. Teilweise mit extrem bildhaften Beschreibungen, die eventuell triggernd auf ehemalige Betroffene wirken könnten, vor allem aber in einer sehr ruhigen und gesetzten Sprache versteht Michael Sieben es, seine Leser einzufangen. Obwohl der Antagonist Wieland und sein Mob aus Mitläufern eine ganz klare Linie haben, verzichtet der Autor auf das klassische Gut-und-Böse-Spiel. Sowohl Mobber als auch Gemobbte erfahren respektvollen Umgang und authentische Darstellungen, ohne dass dabei der Eindruck eines erhobenen Zeigefingers entsteht. Natürlich vermittelt "Das Jahr in der Box" trotzdem die wichtige Botschaft, dass Mobbing nicht in Ordnung ist und was es bei den Menschen anrichten kann. Jedoch passiert das eher unterschwellig zwischen den Zeilen, sodass man als Leser nie das Gefühl hat, alles Schlechte dieser Welt immerzu unter die Nase gerieben zu bekommen. Leider bleiben die Dinge nie so, wie sie sind. Das Leben lässt einen einfach nicht in Ruhe mit seinen Drehungen und Wendungen. Mal bist du oben, mal bist du unten. Und wenn du oben bist, kannst du dir sicher sein, dass es früher oder später wieder abwärtsgeht. (Seite 159) Ähnlich verhält es sich leider auch mit dem Verarbeitungsprozess, den Protagonist Paul durchlebt. In zwei Zeitsträngen nimmt der Leser nicht nur am Leeren der Box teil, sondern wird in Rückblenden auch durch die einzelnen, mit den in der Box befindlichen Gegenständen verbundenen, Erinnerungen geführt. Da das Auspacken der Box nicht einmal 24 Stunden dauert und die Erinnerungen sich immer nur auf kleine Fragmente beziehen, scheint das Verarbeiten all der Geschehnisse enorme Lücken aufzuweisen. Zwar wird öfter mal erwähnt, dass Paul einen Therapeuten besucht hat, doch auf derartige Gespräche wird weder im aktuellen Heute-Erzählstrang noch in den Rückblenden richtig Bezug genommen. Vielleicht ist das Verarbeiten der Erinnerungen aber auch ganz bewusst von Michael Sieben auf diese Weise umgesetzt worden, um zu zeigen, dass die Heilung oft in großen Teilen bei einem selbst liegt und therapeutische Gespräche nur als eine Art Hilfestellung angesehen werden sollten. Diese Botschaft ist in jedem Fall gut gelungen, und möglicherweise wirkt Paul auch nur so gefasst und geerdet, weil die vorhergehenden Gespräche mit einem Therapeuten genau dorthin gebracht haben – in sein Zimmer, mit der Box auf dem Boden und genug Kraft, sich mit ihrem Inhalt zu befassen. Der zweite Roman von Michael Sieben ist sicherlich keine leichte Lektüre. Man muss sich auf die Geschichte einlassen, auf die kruden Charaktere gefasst sein und mit schlimmen Beschreibungen rechnen. Gerade Menschen, die selbst Mobbingerfahrungen machen musste, sollten "Das Jahr in der Box" mit Vorsicht begegnen. Die Lektüre kann aber auch eine Chance sein, sich mit der eigenen Erfahrung auseinanderzusetzen und vielleicht sogar auszusöhnen. In jedem Fall gehört dieses Buch zu denen, die viele Leser finden und von Lehrern als Unterrichtslektüre in Betracht gezogen werden sollten. Eine vorsichtige, aber von Herzen kommende Leseempfehlung. Fazit: "Das Jahr in der Box" ist ein eher ruhiges, zurückhaltendes Buch, das sich trotzdem mit enorm wichtigen Themen auseinandersetzt. Mobbing, Freundschaft, erste Liebe, Schuldgefühle und die Wichtigkeit von Erinnerungsstücken sowie dem Auseinandersetzen mit Geschehnissen werden von Michael Sieben auf diesen knapp 250 Seiten zu einem Geflecht verwoben, das vor allem zwischen den Zeilen wirkt. Nicht nur eine Empfehlung für Jugendliche, sondern auch für Erwachsene – vielleicht auch als Schullektüre in Betracht zu ziehen. Wertung: 4 von 5 Sternen Handlung: 4 / 5 Charaktere: 5 / 5 Lesespaß: 4 / 5 Preis/Leistung: 4 / 5

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