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gwyn

Posted on 14.5.2020

Paris: Ein junger Mann mit Hut beschimpft in der Linie Linie S (Bus) einen älteren Mann, setzt sich. Zwei Stunden später an der Gare-Saint-Lazare: Ein Freund sagt dem jungen Mann, seinem Mantel fehle oben ein Knopf. – Wie banal – schreibe einen Text darüber! Was für einen bitte? Kurzgeschichte, Reportage, Schauerroman, darf ein Ufo vorkommen? Ein Telegramm, eine Ode, ein Haiku, eine Fabel, Botanisch, Makkaronisch, Mathematisch? Ein völlig banales Ereignis in 99 Stilformen geschrieben – der französische Schriftsteller Raymond Queneau (1903–1976) war ein Sprachtalent. Er schafft es, aus dieser banalen Information 99 verschiedene Texte zu entwerfen, ein Werk, das 1947 unter dem Titel «Exercises de Style» in Paris erschien und erstmals 1961 von Ludwig Harig und Eugen Helmlé ins Deutsche übersetzt wurde. Das ist nicht nur genial-amüsant zu lesen, sondern auch eine gute Übung, um mit Sprache zu spielen. Irgendeine banale Beobachtung wiedergeben – immer wieder aufs Neue – immer wieder mittels eines anderen Stils. «Wir nehmen die Haltung des Originals ein, um die Geschichte zu erzählen, und suchen das für diesen Ton geeignete Deutsch. Literaturübersetzen heißt Schreiben wie der Autor, aber in einer anderen Sprache und mit deren Mitteln. Wenn das gelingt, erzielen wir bei unseren Leserinnen und Lesern die gleiche Wirkung, den gleichen ästhetischen Genuss.» (Frank Heribert und Hinrich Schmidt-Henkel, Dankesrede zum Straelener Übersetzerpreis 2017) 2016 gab es dann eine Neuübersetzung von Raymond Queneaus Stilübungen, wieder vom Suhrkamp Verlag, dieses Mal übersetzten Frank Heribert und Hinrich Schmidt-Henkel. Das Original, nun siebzig Jahre alt, wurde in mehr als dreißig Sprachen übsetzt – für den Übersetzer eine hochkomplizierte Aufgabe. Umberto Eco, der das Buch ins Italienische übertrug, schrieb: «It is not so much a question of translating as one of recreating in another language with a different social and historical and intertextual context». Was bedeutet das? Ist ein Satz nicht ein Satz – den man durch ein Übersetzungsprogramm jagen kann? Was bedeutet denn Kontext? Ort, Zeit, Bedeutung (Meine Oma sagte geil zu Pflanzentrieben, meiner Mutter trieb es Röte ins Gesicht und sie verbot mir das Wort. Heute benutzen wir es als Synonym für sehr gut.) Zum Kontext benötigen wir die Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, ihre Reife, ihren Wissensstand, ihren Stand. Und auf welche Weise sind die Worte im Text grammatisch und semantisch verknüpft? Die neue Übersetzung enthält zudem bislang unveröffentlichte Texte – wir finden nun 122 Möglichkeiten in diesem Buch. Und an den Beispielen unten wird auch klar, welch schwierige Aufgabe eine Übersetzung verbirgt. Gleichzeitig geben die Zitate ein Gefühl für die Möglichkeiten, mit Sprache zu spielen. Einerseits kann man sich königlich amüsieren, andererseits dient dieses Buch dazu, stilistische Merkmale zu veranschaulichen, sie miteinander zu vergleichen und etwas daraus mitzunehmen. Übrigens erhielten die Literaturübersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel für ihre Neuübersetzung von Raymond Queneaus Stilübungen den Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW 2017. Zugleich würdigt der Preis das übersetzerische Lebenswerk von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hier die beiden ersten Texte aus dem Buch: Übersetzung 2016 (Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, Suhrkamp Verlag) «Notiert Im S, zur Stoßzeit. Ein Typ, ungefähr sechsundzwanzig, weicher Hut mit Kordel statt Band, zu langer Hals, als hätte jemand dran gezogen. Leute steigen aus. Besagter Typ regt sich über einen der Nebenstehenden auf. Der remple ihn jedes Mal an, wenn einer vorbeiwolle, beschwert er sich. Weinerlicher Ton, der aggressiv klingen soll. Er sieht einen freien Platz, springt hin. Zwei Stunden später sehe ich ihn auf der Cour de Rome vor der Gare Saint-Lazare. Er steht mit einem Freund da, der zu ihm sagt: »Du solltest dir einen zusätzlichen Knopf an den Mantel nähen lassen.« Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum. Übersetzung 1990 (Ludwig Hartig & Eugen Helmlé, Suhrkamp Verlag) «Angaben Im Autobus der Linie 5, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedesmal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich drauf. Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor der Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: «Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.» Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.» Übersetzung 2016 (Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, Suhrkamp Verlag) Gedoppelt Um die Tagesmitte und mittags betrat und erstieg ich die Plattform und den hinteren Austritt eines vollen und nahezu restlos besetzten Autobusses und Fahrzeugs des Öffentlichen Nahverkehrs der Linie S und der Verbindung zwischen Contrescarpe und Champerret. Ich sah und bemerkte einen ziemlich lächerlichen und ganz schön grotesken jungen Mann und alten Jugendlichen: hagerer Hals und magere Gurgel, Schnur und Kordel um Hut und Kopfbedeckung. Nach einem Gedrängel und Durcheinander sagt und verkündet er mit larmoyanter und weinerlicher Stimme und Betonung, sein Nachbar und Mitreisender schubse und belästige ihn jedes Mal mit Absicht und Nachdruck, wenn jemand aussteige und den Bus verlasse. Als er dies geäußert und nachdem er den Mund aufgemacht hat, stürzt und begibt er sich auf einen leeren und freien Platz und Sitz. Zwei Stunden später und einhundertzwanzig Minuten danach treffe und sehe ich ihn auf der Cour de Rome und vor der Gare Saint-Lazare wieder. Er ist und befindet sich dort mit einem Freund und Kumpel, der ihm rät und nahelegt, zusätzlich einen Knopf und eine Steinnussscheibe an seinen Überzieher und Mantel anfügen und annähen zu lassen. Übersetzung 1990 (Ludwig Hartig & Eugen Helmlé, Suhrkamp Verlag) Verdoppelung Gegen Mitte des Tages und am Mittag befand ich mich und stieg ich auf die Plattform und die hintere Terrasse eines überfüllten und fast besetzten Autobusses und Gemeinschaftstransportfahrzeuges der Linie S und der von der Contrescarpe nach Champerret fährt. Ich sah und bemerkte einen jungen Mann und alten Jüngling, reichlich lächerlich und nicht wenig grotesk: magerer Hals und fleischloser Schlund, Schnur und Kordel um Hut und Kopfbedeckung. Nach einem Gestoße und Durcheinander sagt und verkündet er mit tränenvoller und weinerlicher Stimme und Aussprache, daß sein Nachbar und Mitreisender ihn jedes Mal, wenn jemand geht und aussteigt, bewußt und absichtlich anstößt und belästigt. Nachdem er dies erklärt und den Mund aufgerissen hat, stürzt er sich und wendet er sich einem leeren und freien Platz und Sitz zu. Zwei Stunden danach und hundertundzwanzig Minuten später treffe und sehe ich ihn wieder auf der Cour de Rome und vor der Gare Saint-Lazare. Er ist und befindet sich in Begleitung eines Freundes und Kumpels, der ihm rät und ihn anregt, einen Knopf und ein Corozorund an seinen Überzieher und Mantel hinzuzufügen und anzunähen.» In «Notleidend beginnt der Text mit «Im S + 7, zur StPO. Ein Tyrann, ungefähr sedativ, weidliches Hutzelbrot mit Kordon statt Bandoneon …» – ein anderer Text beginnt mit: «In einer fliegenden Untertasse der Linie Alpha Kassiopeia …» – «Ein Schwarm Sardinen schwamm durch den Atlantik. Eines dieser Tiere wollte …» bei Letztem gibt es den Rat zur Schuppenpflege. Wer sich gern mit Textgestaltung beschäftigt, wird hier einen riesigen Fundus vorfinden, aus einer banalen Situation einen kreativen Text zu gestalten. Beide Ausgaben haben ihren Charme. Die von 1990 ist nur noch im Antiquriat zu bekommen und zeigt eine völlig andere Gestaltung, ein bisschen Pop-Art, wo hingegen die von 2016 schlicht gestaltet ist, rein und schnörkellos Raymond Queneaus Texte in der Neuübersetzung wiedergibt. Der Fantasie und dem Stil sei gedankt – die Möglichkeiten sind unendlich. Für mich ist dieses Buch nicht nur ein Leseschatz. Im Kopf gehen Lichter an und es sprudeln die Gedanken. Ein Standardwerk, das auf keinem Nachttisch fehlen sollte – zur Belustigung oder zur Inspiration. Frank Heibert, geboren 1960 in Essen, lebt in Berlin. Er übersetzt aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Amos Oz, Don DeLillo, Richard Ford und Yasmina Reza. Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

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