Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 14.5.2020

Laut BKA ist jede dritte Frau in Deutschland von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Die Strafrechtsanwältin Christina Clemm berichtet an Hand von «Akten» empathisch und gleichzeitig schnörkellos aus ihrer Praxis. Hier geht es nicht immer um häusliche Gewalt. Es geht auch um Machtdemonstration, um den Umgang mit Frauen vor Gericht. Aussage gegen Aussage. Gern wird Frauen Lüge und Missgunst unterstellt. Die Polizei ist machtlos, solange nichts Gewaltiges passiert ist, Bedrohungen sind keine ausgeführten Taten, Stalking schwer nachzuweisen. Anwälte nehmen die traumatisierten Opfer, die als Zeugen vor Gericht stehen, brutal und systematisch auseinander, leuchten ins Leben der Frauen zurück, arbeiten mit Unterstellungen und Falschdarstellungen, schablonisieren die Täter zu braven, sensiblen Männern, die nur Gutes wollen. Das Opfer wird plötzlich als Täter dargestellt. Eva ist schwanger. Als ihr Freund ihr in den Bauch tritt, verlässt sie ihn. Der schickt ihr nun Morddrohungen – die Polizei ist machtlos. Siebzehn Mal zeigt Eva ihn an. Mit der toten Eva hat die Polizei nun endlich ihr Delikt. Faizah ist mit einem Deutschen verheiratet. Er sperrt sie ein. Allein darf sie die Wohnung nicht verlassen, nicht Deutsch lernen, Prügel gehören zum täglichen Brot. Es dauert einige Jahre, bis sie aus dem Martyrium entkommt. Ihr Mann ist bereits vorbestraft wegen häuslicher Gewalt, erfährt Faizah. Und weil sie Zeugen aufweisen kann, Rippenbrüche, Spuren von harten Schlägen, Narben von ausgedrückten Zigaretten auf der Haut, glaubt man dieser Frau vor Gericht. Auch hier wollte der Anwalt des Mannes den Spieß umdrehen, ihn als fürsorglich darstellen, bezichtigte Faizah als Fau, die nicht Deutsch lernen wolle und sich weigere, sich zu integrieren. Mia ist Teilnehmerin einer Gegendemo – auf der anderen Seite demonstrieren reche Gruppen. Sie ruft «Nazis raus!», zeigt den Stinkefinger – wacht im Krankenhaus auf. Ein Mann hatte ihr mit einer Krücke eins übergezogen, sie trägt schwere Kopfverletzungen zurück. Der Richter sieht keine politische Tat und weil der Angeklagte noch im Gerichtssaal dem Opfer 500 Euro als Schmerzensgeld anbietet, hat der Richter ein Einsehen, verurteilt ihn lediglich zu sechs Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung (Mindeststrafe) – der Staatsanwalt und die Nebenklage hatten die Höchststrafe gefordert. Während der Verhandlung wertet der Richter den Stinkefinger Mias als Beleidigung gegen die Demonstranten – sie habe den Schlag ja provoziert. Am Ende schiebt er nach, Mia möge froh sein, dass er sie nicht auch verurteilt habe, sie hätte mit dem Finger eine Beleidigung ausgesprochen. Die politische Gesinnung des Richters ist offensichtlich. Christina Clemm arbeitet als Strafverteidigerin und als Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt. Sie ist Fachanwältin für Strafrecht und Familienrecht in Berlin und war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des BMJV. Die Geschichten sind so verschieden wie auch die Frauenfiguren in diesem Buch. Ich war angenehm überrascht, dass es hier nicht ausschließlich um häusliche Gewalt geht. Gewalt in der Kindheit, doppelte Gewalt durch die Gerichte, weil die Opfer in die Mangel genommen werden. Hält sich eine Frau wacker und glaubhaft vor Gericht, weil sie den Fragen standhält, wird ihr unterstellt, dass sie eine ausgekochte, selbstbewusste Lügnerin sei. Bricht sie zusammen, ist unfähig zu sprechen, traumatisiert, wird ihr das zur Last gelegt – als Zeugin nicht tauglich. Liest man diese Berichte, versteht man, warum Frauen häufig Gewalttaten nicht zur Anzeige geben. Denn oft zeigen Zeugen die Tat an. Die Autorin berichtet sachlich, ungeschönt. Monique, die Geschäftsführerin – ihr Leben war bereits in der Kindheit verpfuscht, weil sie mit ihrem Vater mehr als 10 Jahre in einem Bett schlafen musste. Alina, die Prostituierte, sie sich ihr Geld zusammenspart, um später ein besseres Leben zu haben – Einer will das nicht wahrhaben, sie für sich haben, kann nicht verstehen, dass sie nicht mit ihm zusammenleben möchte – hat das Messer in der Hand … Claudia hat ein schickes Leben, Klamotten, Schmuck, schnelle Autos – sie ist die große Liebe eines Drogenbosses, darf keinen Schritt alleine gehen. Als sie sich mit einem Mann auf einer Party unterhält, kracht es später zu Hause gewaltig. Sie hätte doch wissen müssen, was passiert, weiß, mit wem sie zusammenwohnt, wie eifersüchtig ihr Lover ist … «Erst 2002 trat in Deutschland nach langen Bemühungen der Frauenbewegung unter dem Slogan ‹Wer schlägt, der geht!› ein im Zivildienst angesiedeltes Gesetz, das sogenannte Gewaltschutzgesetz in Kraft, mit dem betroffene von Gewalt vor weiterer Gewalt im sozialen Nahbereich geschützt werden sollen.» Neben den Akteneinsichten ist eine Menge Information ins Buch eingearbeitet, Erklärungen zum Rechtssystem, wie Aufgaben von Anwälten, die Nebenklage, Gesetze, einiges Sachinformationen, deutlich abgehoben vom Erzähltext. Das hat mir gut gefallen, da hier die Hintergründe zur jeweiligen Geschichte faclich ausgeleuchtet werden. Wie geht ein Mensch mit Gewalt um, wie lebt er traumatisiert weiter? Welch enorm schwere Kraft kostet es ein Opfer, dem Täter im Gericht gegenüberzustehen? Wie geht man damit um, wenn man vom Verteidiger des Täters beschuldigt wird, selbst der Täter zu sein? Wie sieht es aus, wenn man mit dem Täter sich um das Umgangsrecht mit den Kindern streiten muss? Gewalt gegen Frauen bedeutet wesentlich mehr als Schläge in der häuslichen Wohnung. Christina Clemm hat hier in eindrucksvollen Geschichten dargestellt, wie breit der Fächer ist. Nicht mal erwähnt ist psychische Gewalt, die ja selten vor Gericht landet. Ein Sachbuch, das unter die Haut geht, dass uns aufhorchen lässt, dass mit unserem Rechtssystem etwas nicht in Ordnung ist. Es liegt nicht unbedingt an den Paragraphen, sondern daran, wie unsere Gesellschaft mit Frauen umgeht, wie wir mit Opfern umgehen, Opferschutz, Opferausgleich. Natürlich hat jeder Täter ein Anrecht auf Verteidigung, das will niemand in Frage stellen. Ein Strafverteidiger muss seinen Mandanten verteidigen – es steht in seiner Moral, wie weit er es treibt. Es geht auch nicht darum, Täter wegzusperren, sie sind selbst oft Opfer von Gewalt. Aber es gäbe eine Menge Möglichkeiten, Gewalt gegen Frauen und Kinder in der Gesellschaft anzuprangern, die Gesellschaft zu sensibilisieren – Frauen und Männer gleichberechtigt zu stellen. Es gibt einige Ideen, Gewalt im Vorfeld zu deeskalieren. Schauen wir nach Spanien, hier ist man uns weite Schritte voraus. Aber das ist ein anderes Thema. Ein Buch, das wie ein Faustschlag wirkt – gewaltig, aber nicht gewalttätig.

zurück nach oben