literary_marie
Tierney James ist sich sicher, dass sie ihr Leben niemals an einen Mann binden wird. Sie wird das Gnadenjahr absolvieren und danach auf den Feldern arbeiten, denn dann kann sie in ihren Gedanken und in ihrem Wesen immer noch frei sein. Es wird keinen Mann geben, dem sie sich unterwerfen muss, sie wäre immer noch ihr eigener Mensch. Jeder weiß von ihrem Plan: ihre Mutter, ihr Vater, ihr bester Freund Michael. Jeder weiß, dass eine Ehe für Tierney das Ende der Welt, das Ende ihrer Freiheit, bedeuten würde, doch dann kommt bei der Schleierzeremonie alles ganz anders… Gemeinsam mit etwa dreißig anderen zukünftigen Arbeiterinnen und Ehefrauen bestreitet Tierney das Gnadenjahr. Ganz allein werden die jungen Mädchen in den Wald gebracht, wo sie von nun an ein Jahr leben werden. Ziel dieses „Abenteuers“ ist es, ihre Magie anzunehmen – die Magie, die scheinbar in jeder von ihnen schlummert und gefährlich für die Männer ist. Doch auf dem Weg zur Lichtung muss Tierney erkennen, dass die unterschiedlichen Witterungsverhältnisse und die Wilderer, die darauf warten, die Gnadenjahrmädchen zu töten, nicht ihre größte Herausforderung sein werden. Denn schon vom ersten Moment an wenden sich die Mädchen gegeneinander. Jede will überleben, jede ist bereit, dafür alles zu tun – ohne Rücksicht auf Verluste. The Grace Year habe ich regelrecht verschlungen. Schon nach dem ersten Abschnitt (es gibt nämlich keine Kapitel) hatte mich Tierney völlig in ihren Bann gezogen und meine Augen flogen von einer Seite zur nächsten. Als großer Fan von Die Tribute von Panem konnte ich auch zu The Grace Year einige Parallelen erkennen: Eine völlig neue Welt, in der sich ein junges Mädchen zurecht finden muss. Ihr Überlebenskampf im Wald. Und eine Rebellion, die unausweichlich scheint. Mit ihrem Roman hat Kim Liggett außerdem eine Vielfalt von Charakteren geschaffen, die mich im Verlauf der Geschichte überrascht, schockiert und mein Vertrauen teilweise missbraucht haben. Genau wie Tierney weiß auch der Leser nicht, wer gut und wer böse ist, wer ihr den Tod wünscht oder doch nur das Leben retten will. Rasant folgt ein Ereignis auf das nächste, sodass das Ende viel zu plötzlich eintrifft. Obwohl The Grace Year mich absolut begeistert hat, habe ich mir zum großen Finale doch mehr gewünscht. Es gab so viele Punkte, an die die Autorin hätte anknüpfen können und es doch nicht tat. Vieles, das der Geschichte mehr Tiefe hätte verleihen können, blieb für mich unerforscht und der eigentliche Ausgang der Geschichte wirkt dadurch unbefriedigend. Doch vielleicht ist das auch gewollt … Vielleicht ist Tierneys Reise noch nicht zu Ende.