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Jodi Picoult ist so etwas wie ein Garant für gute, spannende Unterhaltungslektüre auf hohem Niveau. Wobei „Unterhaltung“ nicht im Sinne von flach und anspruchslos gemeint ist. Jodi Picoult scheut die schwierigen Themen nicht. So hat sie mit „19 Minuten“ eine derart psychologisch scharfsinnige Analyse aus unterschiedlichsten Perspektiven über den Amoklauf eines Schülers an seiner Schule verfasst, dass einem der Atem stockt. In „Beim Leben meiner Schwester“ beschreibt sie das Dilemma, in dem sich die jugendliche Anna befindet, deren ältere Schwester nur durch Annas permanente Knochenmarksspenden überleben kann, denn sie hat Leukämie. Eines Tages kann und will Anna nicht mehr „Ersatzteillager“ für ihre Schwester sein. Für ihren neuesten dicken Wälzer hat Picoult wieder ein Thema gewählt, mit dem sie es sich nicht leicht macht: In „Kleine große Schritte“ geht es um das in Amerika derzeit wieder brandaktuelle Thema Rassismus. Schwarz gegen weiß. Weiß gegen schwarz. Ruth Jefferson ist Säuglingskrankenschwester in einem Krankenhaus. Sie ist gut, erfahren und beliebt – sowohl beim Pflegepersonal als auch bei den Patientinnen. Ruth hat das große Talent, sich sehr rasch in andere Frauen hineinversetzen zu können, zu spüren, was sie in der Ausnahmesituation Geburt brauchen, wie sie behandelt werden müssen. Sie hat scheinbar mühelos immer den richtigen Einfall im richtigen Moment. Bei der durchgestylten, eitlen Patientin hat sie nach der Geburt rasch einen Lippenstift und eine Bürste parat, weil sie merkt, wie wichtig es für deren Selbstwertgefühl ist, ihrem Mann sofort wieder möglichst makellos gegenüberzusitzen. Der schüchternen, ängstlichen Frau spricht sie Mut zu, dem nervösen werdenden Vater nimmt sie die Angst, ein schlechter Vater zu werden. Kurz gesagt, sie ist ein Traum! Eines Tages hat sie wieder Dienst und wird zu dem neugeborenen Davis geschickt. Sie nimmt die Routineuntersuchungen in Gegenwart der Eltern vor, spürt aber die ganze Zeit deren unterschwellige Aggression, ja fast schon Hass ihr gegenüber. Und dann, als sie fast fertig mit allem ist, schickt der Vater des Jungen sie aus dem Zimmer. Er spricht mit Ruths Vorgesetzter und veranlasst, dass Ruth in Zukunft weder seinen Sohn noch seine Frau anfassen darf. Davis‘ Eltern sind weiß. Sie sind rechtsradikal. Ruth Jefferson ist schwarz. Ruth ist fassungslos, in ihrer langen Laufbahn als Krankenschwester sind ihr schon so manche Dinge passiert, das aber übersteigt alles, was sie sich je hätte vorstellen können. Fast so schlimm wie das Verbot an sich trifft sie aber die Tatsache, dass ihre Vorgesetzte sich nicht schützend vor sie stellt, sondern dass sie tatsächlich dem Wunsch des Ehepaars nachkommt und in die Akte eine Notiz macht, dass kein dunkelhäutiges Personal das Kind oder die Mutter behandeln darf. Außer Ruth gibt es auf der Säuglingsstation aber keine Schwarze. Das Verbot trifft sie also ganz allein. Am nächsten Tag während Ruths Schicht kommt es zu einem Notfall, alle verfügbaren Kräfte werden abgezogen und plötzlich steht sie alleine da mit Davis, der 20 Minuten zuvor einer Beschneidung unterzogen wurde. Und Davis bekommt Atemnot. Ruth steht eine lange Minute wie gelähmt vom Schock da und weiß nicht, was sie tun soll. Handelt sie nicht, stirbt der Kleine. Handelt sie, widersetzt sie sich dem explizit ausgesprochenen Verbot. Sie zögert, dann legt sie los, handelt, funktioniert. Sie funkt Hilfe an, alle tun alles, was nur möglich ist, doch am Ende hilft alles nichts: Davis stirbt. Die Eltern, schwer traumatisiert durch diesen Vorfall, reagieren unterschiedlich. Der Vater begibt sich sofort in Kampfposition und lässt nicht mit sich reden. Alle Register werden gezogen, er will die schuldige, schwarze Krankenschwester hinter Gitter bringen. Seine Frau hingegen zieht sich in sich zurück, nimmt ihre Umgebung kaum noch wahr, ist wie hinter einem Schleier. Der Albtraum für Ruth beginnt, als sie noch nichts davon ahnt. Sie ist sich keiner Schuld bewusst, hat getan, was sie tun konnte. Doch sie wird bald vom Dienst suspendiert und mitten in der Nacht steht dann plötzlich die Polizei vor der Tür und nimmt sie und ihren Sohn gefangen. Wie Schwerverbrecher werden sie abgeführt. Nun beginnt Picoult mit ihrer routinierten Analyse. Sie nimmt alle wichtigen Charaktere auseinander, bis nur noch ihr nackter, schutzloser Kern übrigbleibt. Während die erste, natürliche Reaktion bei der Lektüre die ist, sich SOFORT auf die Seite Ruth‘ zu schlagen und den brutalen Nazivater Turk zu verteufeln, wird man als Leser immer kleinlauter wenn man allmählich den Werdegang dieses Mannes kennenlernt. Es macht ihn nicht besser, aber es macht es einem unmöglich, ihn weiterhin als das Monster zu sehen, für das man ihn zu Beginn hielt. Auch er war mal ein kleiner niedlicher Junge. Jedoch einer, dem zu viel Brutales wiederfahren ist, dem zu viel falsche Ideologie eingetrichtert wurde, dem es an Nestwärme fehlte. Sein Bruder starb bei einem Unfall, der von einem Schwarzen verschuldet wurde – wie er lange denkt! Als er dann später die Wahrheit erfährt (nämlich, dass sein Bruder unter Drogen auf die falsche Straßenseite kam und es dem Schwarzen nicht mehr möglich war, noch mehr auszuweichen), ist es bereits zu spät, das rechtsradikale Gedankengut keimt und wächst bereits fröhlich in seinem Kopf und ist nicht mehr zu stoppen. Picoults große Stärke ist: Sie malt nicht schwarz und weiß, sie skizziert Grautöne. Sie erweckt alle beteiligten Personen, ob positiv oder negativ, so plastisch zum Leben, dass man sie wirklich gut kennenlernt. Welche kleinen Weichenstellungen es manchmal nur benötigt, um aus einem normalen Leben ein miserables zu machen, zeigt sie dabei überdeutlich. Es bricht einem sprichwörtlich das Herz, wenn man mit ansehen muss, was mit Menschen geschehen kann, wenn die falschen Dinge in ihrem Leben passieren … und dennoch: Jeder ist auch immer bis zu einem gewissen Grad seines eignen Glückes Schmied. Also bleibt einem nichts anderes übrig, als weiterzulesen, um zu sehen, was all die Protagonisten in diesem Roman mit dem Rohmaterial ihres Lebens anstellen – und da gibt es tatsächlich auch so manche Überraschung. Unbedingte Leseempfehlung für dunkle lange Winternächte – man kann das Buch unmöglich aus der Hand legen, ist man erst einmal von dem sagenumwobenen Sog erfasst. Warnung: Lest es nicht an Silvester – Ihr könntet sonst die Mitternachtsparty absagen, ganz gegen Euren ursprünglichen Willen …