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Der zweite Teil der Lügenhaus-Serie von Anne B. Ragde hält allen Erwartungen stand. Manche Serie wird ja schon ab dem zweiten Teil so dröge, dass man gar nicht mehr weiterlesen mag, ganz anders hier bei der Geschichte um den Schweinezüchter Tor und seine Familie. Als Leser verfolgen wir die Schicksale der norwegischen Großfamilie, die mittlerweile in alle Winde verstreut lebt, nur Tor führt den elterlichen Hof weiter und kümmert sich um den alten Vater, der ja eigentlich … aber halt! Ich will ja nicht spoilern! Sprachlich weitgehend schnörkellos – so, wie man den skandinavischen Stil eben kennt und schätzt – schreibt sich Ragde weiter in mein Herz. Sie beschreibt ganz unaufgeregt den Alltag der Protagonisten, die in den jeweiligen Teilen der Serie unterschiedlich stark beleuchtet werden. War im ersten Teil („Das Lügenhaus“, siehe auch die Besprechung dazu auf diesem Blog) zum Beispiel Margido, der Bruder, der als Bestatter unweit des elterlichen Hofes lebt, sehr skizzenhaft geblieben, bekommt er die nötige Aufmerksamkeit in Band 2. Seine Persönlichkeit wird näher beleuchtet, der Leser erhält Einblicke in sein Seelenleben (deutlich komplexer als geahnt!) und darf an seiner kindlichen Freude über die Erfüllung seines Herzenswunsches teilhaben. Sehr anrührend! Alle Brüder machen in Summe einen großen Schritt in Richtung „Weltenbürger“, denn sie verstehen angesichts ihres coolen, erfolg- und daher stinkreichen Bruders Erlend und dessen großer Liebe Krumme langsam, dass Homosexualität nichts ist, wovor sie Angst haben müssen. Wenn dann Margido, dem Sexualität an sich schon allergrößte Furcht einflößt, sich auch noch auf den Weg macht und seinen kleinen Bruder in der großen weit entfernten Stadt in dessen Luxuswohnung besucht, dann ist das schon eine echte Weiterentwicklung. Und als er dann auch noch über seinen Schatten springt und das Thema selbst anspricht, geht einem wirklich das Herz auf: „Ich möchte dich um Entschuldigung bitten, Erlend.“ „Wofür?“ […] Eilig sagte er: „Dafür, wie du von unserer Familie behandelt worden bist. Ich kann gut verstehen, wenn du verbittert und wütend bist, auf … ja, auf mich und Tor und … Mutter.“ Doch es sind nicht nur die großen Emotionen und Momente, die Ragde gekonnt einzufangen vermag, sondern gerade im Kleinen beobachtet sie äußerst genau und lässt ihre Protagonisten wunderbare Dinge sagen: Margido entdeckte zwei Spülmaschinen nebeneinander unter der Anrichte. Sie hatten auch zwei Backöfen, übereinander, in Brusthöhe. „Ihr habt ja von allem zwei“, sagte er. „Ja, da hast du vielleicht recht“, sagte Erlend mit einem kurzen Lachen, seine Schultern zitterten in dem schwarzen Rollkragenpullover. […] „Zwei Spülmaschinen sind perfekt“, sagte Erlend. „Im Alltag nehmen wir sauberes Geschirr aus der einen und stellen das schmutzige in die andere, und wenn wir Gäste haben, ist es großartig, nachher in zwei Maschinen spülen zu können.“ Warum habe ich dieses Buch nicht VOR unserer Küchenrenovierung gelesen? Ich hätte glücklich auf den einen Schrank mehr verzichtet und lieber die unvermeidliche ZWEITE Spülmaschine gewählt 😉 Doch nicht nur Margido und Erlend nähern sich an, sondern auch Erlend und sein Ehemann Krumme rücken nach einem schweren Unfall, der für Krumme zum Glück glimpflich ausgeht, noch ein wenig enger zusammen. Neue Ideen werden geboren, bringen ihre Beziehung in eine Krise, doch dann finden sie den richtigen Kompromiss und entscheiden sich für ihren ganz persönlichen Weg der Lebensplanung … Einzig Tor und seine Tochter Torunn scheinen derzeit eher auf der Schattenseite des Lebens zu wandeln. Tor verletzt sein Bein so unglücklich, dass er komplett außer Gefecht gesetzt ist und seinen Hof nicht länger alleine bewirtschaften kann. Und Torunn verliebt sich, doch es ist eine derart blinde Verliebtheit, dass dem Leser bereits nach kurzer Zeit schwant, dass das eher dramatisch enden könnte … Wie wird alles weitergehen? Hilft Torunn ihrem Vater? Bleibt sie bei bei ihrer (neuen) großen Liebe? Mit einem furiosen Cliffhanger lässt uns Anne B. Ragde am Ende des Buches nägelknabbernd zurück und löst, wie beim letzten Mal, den sofortigen Drang aus, den nächsten Band zu ordern. Nicht morgen, nicht nachher – sondern JETZT!