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daslesendesatzzeichen

Posted on 12.5.2020

Nun muss ich ja ehrlich gestehen, dass ich bei Familiensaga, mehrteilig und Bestseller meist die Antennen schon wieder einklappe, weil mich das zu wenig reizt. Zu vorhersehbar, zu sehr Mainstream. Woran es lag, dass ich schon länger um diesen Titel herumscharwenzelte und jetzt endlich zugriff, kann ich nicht genau erklären. Am Cover kann es wohl kaum gelegen haben, das eher sehr unscheinbar bis bieder daherkommt. Aber bereits der Rückseitentext und die Leseprobe packten mich. Und ich wurde nicht enttäuscht: Anne B. Ragde steckt alles in ihren Roman, was man braucht, um den Leser anzufixen und dann zufrieden und satt am Ende des Buches in die Sofakissen zurücksinken und sofort online beim Buchhändler des Vertrauens den nächsten Band ordern zu lassen. Das letzte Mal, als mich in Buchform (bei Fernsehserien passiert das ja schnell mal, wenn sie gut gemacht sind, wie zum Beispiel „Downton Abbey“) eine „Serie“ derart in den Bann gezogen hat, war, als ich im Studium die „Stadtgeschichten“ von Armistead Maupin entdeckte und völlig und hoffnungslos verloren war in dem Komos. Über Monate habe ich mich mit meinem besten – ebenfalls angefixten – Kumpel stundenlang über die Charaktere der Bücher unterhalten und überlegt, wie es mit ihnen weitergehen wird … Hach ja, die guten alten Zeiten … mal schauen, ob das hier auch solche Wellen schlagen wird! Ragde skizziert ihre Figuren sauber, sie legt sie grundsolide an, lässt dem Leser die Möglichkeit, ein Verhältnis zu ihnen zu entwickeln. Alle werden unkonventionell eingeführt in die Geschichte, wir springen in medias res, landen mitten in einer Lebenssituation der jeweiligen Person und laufen erst mal ein bisschen mit ihr mit, um das Geschehen einordnen zu können. Da ist Tor, der Schweinebauer, der seine Tiere über alles liebt, der darüber aber ein wenig den Umgang mit den Menschen verlernt hat. Harte Schale, weicher Kern. Dann gibt es Margido, den von einer trauernden Witwe verfolgten Junggesellen und Bestattungsunternehmer – den blassesten der Protagonisten, aber wir befinden uns ja auch erst in Band 1 der Saga … Und dann ist da vorallem Erlend, der Schaufensterdekorateur, der mir von allen am meisten ans Herz gewachsen ist. Seit 12 Jahren lebt er mit seinem Mann Krumme zusammen und die beiden haben eine so herzerfrischende, liebevolle Art miteinander, dass man ins Buch hineinkriechen und die beiden umarmen möchte. Erlend hat ein Riesenfaible für Swarowski-Glasfiguren, wobei dem gläsernen Einhorn eine besondere Rolle zuteil wird. Diese drei ungleichen Gesellen haben so gar nichts gemeinsam und doch haben sie dieselben Wurzeln, auch wenn sie seit Jahren keinen Kontakt mehr miteinander pflegen: sie sind Brüder. Als von heute auf morgen ihre Mutter einen Schlaganfall erleidet, trifft das eigentlich nur einen wirklich in Mark und Knochen, nämlich Tor, da er und die Eltern seit Jahren gemeinsam auf dem Hof der Familie leben. Ob sie wollen oder nicht, die neue Situation zwingt alle drei Brüder, sich wieder miteinander zu beschäftigen, miteinander zu reden – und auch mit ihrem unscheinbaren, ungeliebten Vater, für den sich kein Mensch jemals interessiert hat. Und dann greift Tor auch noch zum Telefon und ruft eine Frau namens Torunn an … Und so scheint das Unglück der Mutter trotz aller Trauer die Möglichkeit eines Neuanfangs zu bieten. Oder?

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