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daslesendesatzzeichen

Posted on 12.5.2020

Wir befinden uns in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts – in Göteborg. Nicht gerade die Drehscheibe der Roaring Twenties. Ein bisschen hinterwäldlerisch, finden die Stockholmer, die sehr auf Göteborg herabschauen. Sie belächeln das „kleine Örtchen“, das ja nur etwa halb so groß ist wie Stockholm. Doch dagegen wissen die Göteborger sich zu wehren, sie sind einfallsreich und haben von langer Hand für das Jahr 1923 eine großartige Jubiläumsausstellung geplant, das Jahr, in dem ihre Stadt 300jähriges Jubiläum feiert. Genau in diesem Jahr setzt einer der Haupterzählstränge ein: Eine Frau namens Ellen ist am Wendepunkt ihres noch jungen Lebens. Jetzt entscheidet sich, ob sie ein beliebiges, belangloses Leben führen oder etwas ganz und gar Neues probieren wird. Wird es ihr gelingen? Wird sie den Mut haben? Sie ist erst neunzehn, hat kein eigenes Geld in der Tasche und möchte unbedingt selbstständig werden. In der Schule hatte man sie immer besonders für ihre Aufsätze gelobt, also nimmt sie die besten mit und stellt sich bei der Redaktion der Ausstellungszeitung „Krone und Löwe“ vor. Und tatsächlich, das Unvorstellbare passiert – sie wird genommen. Die Eltern sind schnell überredet, als sie merken, dass ihr Kind nicht von dieser Idee abzubringen ist. Sie bekommt ein Zimmer bei der sonderbaren Großtante, die seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr ganz die Alte ist. Der unschlagbare Vorteil von Tante Ida ist, dass sie keine 10 Gehminuten vom Ausstellungsgelände entfernt wohnt. Während Ellen flügge wird und das wärmende Nest des Elternhauses verlässt, verliert gerade, ebenfalls in Göteborg, Nils Gunnarsson, seinen Mentor und Vorgesetzten, der von einem Verdächtigen bei der Befragung im Polizeirevier erschossen wird. Auch er steht nun vor einem Neubeginn, denn der junge Polizist, der immer auch ein wenig im Schatten seines Mentors und Freundes stand, muss sich nun alleine beweisen. Zeitgleich sitzt in Berlin in seinem großen Haus ein sehr populärer Physiker namens Albert Einstein und weiß weder ein noch aus. Er ist gerade mal wieder dabei, sich zu verlieben und eine Affäre zu beginnen, obwohl er um die Vorzüge seiner Frau Elsa sehr wohl Bescheid weiß – er wird sie aber auch nie verlassen, sie ist sein lebendiger Kalender, ohne sie wäre er verloren -, und dann bekommt er neuerdings auch noch Morddrohungen. Dass er von Antisemiten immer wieder Anfeindungen aushalten muss, ist er bereits gewohnt, doch das hier ist nun ein neues Niveau der Pöbelei. Einstein bekommt Angst. Dennoch muss er seinen Verpflichtungen nachkommen, Vorträge halten, öffentliche Auftritte absolvieren. Einer davon ist seine Rede anlässlich des Nobelpreises, die er auf der Jubiläumsausstellung in Göteborg halten soll. Eine kleine, aber feine Rolle spielt auch Otto, der Junge vom Land, der als Einziger mit der leicht verrückten Eselsdame Bella klarkommt und deshalb mit darf nach Göteborg zur Ausstellung. Dort ist Bella eine der Attraktionen für Kinder: Auf ihr darf geritten werden, freilich immer nur schön im Kreis herum und am Führstrick. Und ebendiesen darf Otto halten. Doch ihm fällt gegen Ende des Buches noch eine gewichtigere Aufgabe zu. Diese Erzählstränge werden nun im Lauf des Romans von Marie Hermanson kunstvoll miteinander verwoben, die einzelnen Schicksale beginnen ineinanderzugreifen. Hermanson, deren Durchbruchswerk Muschelstrand mir gänzlich unbekannt ist, schreibt schlicht, aber überzeugend. Sie webt beim vorliegenden Roman Der Sommer, in dem Einstein verschwand Fiktives in den großen Teppich des tatsächlichen Weltgeschehens und erzeugt bei ihrem Vorgehen die vielgerühmte Sogwirkung. Krimielemente schieben sich aufgrund der Tatsache, dass Einstein zwar in den Zug nach Göteborg steigt, aber nicht zur erwarteten Uhrzeit dort ankommt, in den Roman, der auch noch mit einer netten Liebesgeschichte und einem „Coming of Age“-Element bezüglich der Protagonistin Ellen aufwarten kann. Locker, fluffig, leicht liest sich das Buch. Keine schwere, philosophische Lektüre, sondern guter Lesestoff auf angenehmem Niveau erwartet die Leser hier. Fiktion gespickt mit wahren Elementen, immer ein Garant für spannende Unterhaltung – und die Rechnung geht auch hier auf. Wer gut unterhalten werden will, Anstöße für neue Themen sucht, kommt hier auf seine Kosten. Klare Leseempfehlung, nicht nur für Schweden-Fans!

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