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daslesendesatzzeichen

Posted on 12.5.2020

Jeder hat sein Päckchen zu tragen, sagt man so schön. Aber bei manchen ist das Päckchen doch ein bisschen umfangreicher, schwerer und bedrückender als bei anderen. Auch Juri gehört zu diesem Personenkreis. Er kommt aus Russland, genauer Murmansk – eine wenig einladende Hafenstadt nördlich des Polarkreises auf der Halbinsel Kola gelegen. Aus der bedrückenden Enge, die er dort verspürte, ist er schon vor vielen Jahren geflohen, nach Amerika. Erst da begann sein wahres Leben: Er studierte, wurde Professor für Ornithologie und konnte endlich angstfrei so leben, wie es ihm in Russland nie gestattet war, denn Juri ist homosexuell. Sein Vater hasste ihn, seit er sich erinnern kann. Zuerst war da ein großes Desinteresse an seiner Person, dann eine immense Wut, da der Junge in so viel besseren, einfacheren Umständen groß werden durfte, als der Vater selbst. Dieser Wut ließ der Vater freien Lauf, schlug Juri, maßregelte ihn, schimpfte und versuchte ihn auf viele Weisen zu drangsalieren. Die Mutter, kaum mehr als eine Amöbe, tritt im ganzen Buch kaum in Erscheinung, und genau eine solche Rolle spielte sie auch in Juris Leben: nämlich keine. Juri ist dem harten Seemann, den er als Vater hat, viel zu weich, zu weibisch. Und dann beobachtete der schmächtige Kerl auch noch ständig Vögel, statt sich mit „männlicheren“ Themen zu befassen. Juri hat jeden Kontakt zu seiner Familie abgebrochen, als er in die USA ging, war beim Tod seiner Mutter nicht zugegen und ist doch einigermaßen überrascht, als ihn eines Tages eine E-Mail aus seinem modernen Leben herauskatapultiert, mitten hinein in den Albtraum seiner Vergangenheit. Ein Nachbar seines Vaters hat ihn ausfindig gemacht, um mitzuteilen, dass dieser im Sterben liegt, er aber noch etwas Wichtiges mit seinem Sohn besprechen müsse. Juri versucht sich erst gar nicht gegen diesen ureigensten Impuls zu wehren, der ihn sofort aufspringen und einen Flug nach Murmansk buchen lässt. Zusehr ist dieses kindliche Pflichtbewusstsein verankert, obwohl ihm sein Elternhaus weder etwas bedeutet, noch nahesteht. Er fliegt also zurück in sein altes Leben und findet die Stadt dort merkwürdig gleichförmig vor, obwohl doch viel Zeit ins Land gegangen ist. Seltsam fremd und doch vertraut – ein altbekanntest Gefühl, das die meisten überkommt, wenn sie lange Zeit von ihrem Heimatort fern waren, an dem sie als Kind aufwuchsen. Rubin, so des Vaters Name, ist nicht altersmilde geworden, sondern weckt in Juri sofort die gleichen Gefühle wie früher – doch er hat einen Auftrag an Juri und somit sofort wieder Macht über ihn. Juri soll, und zwar möglichst schnell, denn viel Zeit hat der Todgeweihte nicht mehr, herausfinden, was mit Rubins Mutter passiert ist, die verschwand, als er ein kleiner Junge war. Juri selbst kennt nur wenige Geschichten über seine Großmutter, spürt aber, dass das Wissen um diese Frau viele Aspekte seines Lebens neu beleuchten könnte. Und so macht er sich auf die Suche nach Klara Sergejewna Bondarew, einer Geologin, die nach Uran forschte und in einer Nacht des Jahres 1950 von Männern in schwarzen langen Mänteln verschleppt wurde, direkt aus ihrem Zuhause, vor den Augen ihres kleinen Jungen und ihres verängstigten Mannes. Stalins Regime verbreitete Angst und Schrecken und Klara war ein Opfer dieser Atmosphäre geworden, in der jeder jeden anprangerte, nur um seine Haut zu retten, in der ein unbedachter Kommentar über Leben und Tod entscheiden konnte und über das Fortbestehen oder Zerstören einer Familie. Für Rubin bedeutete es das Ende einer fröhlichen Kindheit und seine spätere Härte erklärt sich aus den Erlebnissen dieser Phase – dennoch kann man zwar Verständnis für die unschönen Entwicklungen seines Charakters aufbringen, Sympathie erweckt er jedoch eher selten. Nun beginnt die französische Autorin Isabelle Autissier die Einzelteile dieses ganzen Geschichtengeflechts vor dem Leser auszubreiten, einem Fächer gleich … Der Spot geht an und beleuchtet wird das Leben des kleinen Rubin, vom traurigen Außenseiter bis zum stahlharten Seebären. Dann wird Juris Werdegang aufgerollt, alles auf ruhige und dennoch sogentwickelnde Weise – und dann schließlich, als Finale, kommt endlich die Geschichte Klaras, die als Gründerin dieser Familie alles ins Rollen brachte, alle Wege für ihre Nachfahren vorbestimmte. Man kann sich dem Erzählstil, der wortgewaltig Bilder der rauen und dennoch faszinierenden Natur zeichnet, nicht entziehen und will immer mehr davon lesen und immer weiter einsteigen in die Geschichte dieser ominösen Klara, die man mit jeder Seite mehr ins Herz schließt und die man begleiten möchte, weit über die letzten Seiten des Buches hinaus. Unbedingt lesenswert!

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