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anne_hahn

Posted on 11.5.2020

"Der Mann, der mir entgegenkommt, trägt einen schwarzen, eleganten Anzug und einen Elefantenkopf. Der Rüssel schwenkt hin und her, während er geht. Zwei Frauen dicht hinter ihm schnattern sich mit ihren Gänseschnäbeln die neuesten Nachrichten zu... An der Haltestelle der Straßenbahn steht ein Mann mit dem Haupt eines Esels, neben ihm eine Frau mit einem Pferdeschädel. Der Pferdeschädel sieht mich an und nickt in meine Richtung." Im Mitteldeutschen Verlag erschien vor wenigen Wochen der 350 Seiten starke Roman ANGSTFRESSER von Grit Poppe. Das Buch erzählt aus zwei Perspektiven die Geschichte einer Flucht und ihrer Folgen – zwischen 1986 und 2002. Mira lebt in der DDR-Enklave Klein-Glienicke, sie ist fünfzehn und in Hans, den Sportsfreund ihres Vaters, verliebt. Als der Vater seinen Geburtstag feiert, nutzt Hans die Lage im Grenzgebiet, um abzuhauen. Mira gibt ihm den Schlüssel für die Leiter der Familie (auf grenznahen Grundstücken sind Leitern eingeschlossen) und folgt Hans auf den Friedhof, an die Mauer. Ein Schuss fällt und wir lesen etwa 100 Seiten lang, wie sich Miras Angst in der Gegenwart anfühlt. Wie sie dagegen ankämpft und schließlich in ein Experiment einwilligt, sich einen angstfressenden Blutegel auf den Bauch setzen und beißen, ihn die Angst aussaugen lässt. Für Tage, Wochen mit sich herumträgt. Alpträume hat, Halluzinationen. Ich bin sehr bei Mira in meiner Lektüre, die sich inzwischen Kyra nennt und in surreale Abenteuer gerät. Ich will das Buch weglegen, als die Perspektive wechselt und wir mit Hans im Westen landen, sein Schweigen kaum ertragen können, seine Unfähigkeit zum Glück. Erst gegen Ende, und dafür halte ich durch, führt Grit Poppe die Zeitstränge und Hauptfiguren zueinander, erzählt von der Heilung und Selbst-Bewusst-Werdung der jungen Frau, die sich mit ihren traumatischen Erfahrungen im Jugendwerkhof der DDR auseinandersetzt, während der Egel an ihr saugt. Grit Poppe hat sich tief eingefühlt in die Opfersicht, die mir authentischer erscheint als die des Schuldigen, des Geflüchteten, des Versagers. Mit einem lauten Knall endet die Geschichte wieder auf dem Friedhof in Klein-Glienicke und malt mir ein fettes Grinsen in diesen 8. Mai. P.S. Auf den Tag des Sieges!

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