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mojosabine

Posted on 9.5.2020

Die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland wurden im 20. Jahrhundert vor allem durch den 2. Weltkrieg extrem belastet. Wie fühlt es sich also an, Kind einer französisch-deutschen Familie zu sein? Für die 1974 in Straßburg geborene Geraldine Schwarz, Journalistin und Autorin von „Die Gedächtnislosen“, hat diese Konstellation vor allem die Konsequenz, als überzeugte Europäerin aufzutreten. Ihre Großväter, die sich im 2. Weltkrieg als Feinde gegenüberstanden, hat sie nicht mehr wirklich kennengelernt. Doch sie beginnt ihnen nachzuforschen und entdeckt, dass der Wohlstand des deutschen Familienzweigs auch darauf zurückzuführen ist, dass Opa Karl eine jüdische Firma in Mannheim arisiert hatte, während der Besitzer fliehen musste und seine Familie in Auschwitz vernichtet wurde. Als der Überlebende nach dem Krieg sein Hab und Gut zurückfordert, weigert sich Karl. Geraldine Schwarz recherchiert und rekonstruiert diesen Fall, stöbert sogar entfernte Nachkommen des Betrogenen auf. Ausgehend von der familiären Verstrickung spannt sie den Bogen bis in die allgemeine Historie, zieht, wo sie auf Lücken stößt, ähnliche Fälle heran, kommentiert den Umgang mit zurückkehrenden Opfern, sowie eine nachlässige Entnazifizierung im Nachkriegsdeutschland. Schwarz gräbt sich tief hinein und versucht den Gründen für die verbreitete Sucht nach Vergessen und Verdrängen nachzugehen. Indem sie sich selbst als nicht nur als analysierende, sondern auch fühlende Person bei diesem Vorhaben einbringt, wird die Geschichte lebendiger als in so mancher theoretischen Abhandlung. Es ist Erinnerungsarbeit, die alle einem Menschen zur Verfügung stehenden Mittel aufbietet. So schreibt Schwarz, als sie eine Bestandsliste des Besitzes ihres Mannheimer Großvaters im Keller findet: „Bei der Lektüre dieser Liste, die jedes einzelne Kleidungsstück, das gesamte Mobiliar, jedes einzelne Zubehör, das meine Großeltern besaßen, aufzählt, fand ich mich in jener Kulisse wieder, in der Oma gelebt hatte, als ich noch ganz klein war, und von der ich gedacht hatte, mich nur noch vage an sie erinnern zu können.“ Glücklicherweise kann Schwarz bei ihren Nachforschungen auch auf die Auseinandersetzung ihres deutschen Vaters mit dem Nationalsozialismus zurückgreifen, der in den 60er Jahren begann, das Schweigen des Großvaters brechen zu wollen und damals bereits die deutschen Nachkriegsattitüden von Vermeidung und Unbelehrbarkeit aufmerksam wahrgenommen hatte. Aber auch die Franzosen waren während des Kriegs keineswegs untätig und unverschuldet geblieben, sondern viele hatten mit der Vichy-Regierung kollaboriert. Der französische Großvater von Schwarz, Lucien, war Gendarm und lebte in der Nähe von Drancy, dem großen Umschlagplatz für Deportationen französischer Juden. Frankreich schützte sich vor dem Wissen um seine Mitschuld mit dem Mythos des tapferen Widerstands gegen die deutsche Besetzung. Je näher das Kriegsende rückte, umso mehr Franzosen reklamierten für sich, der Résistance anzugehören. Als schließlich Schwarz’ Mutter in den frühen 70er Jahren einen Deutschen heiraten will, gibt es Protest von Seiten ihrer Großtante. Sie sei geistesgestört, diesen „Boche“ einem Franzosen vorzuziehen. Schwarz’ deutsche Großmutter wiederum konnte nicht verwinden, dass das Elsass nach dem 2. Weltkrieg an Frankreich gefallen war. Die Erinnerungsarbeit dieser Autorin ist beispielgebend, indem sie persönliche mit allgemeiner Geschichte, Dokumentarisches mit Emotionalem verbindet. Ihr Bekenntnis zu einer notwendigen Aufarbeitung vergangener Untaten, um zukünftige nationalistische Gesinnungen zu vermeiden, steht als politisches Statement über diesem spannenden Buch.

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