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mojosabine

Posted on 9.5.2020

Bin ich in Italien, will ich am liebsten italienische Autoren kennenlernen. Also las ich den kürzlich erschienenen Roman „Alle, außer mir“ von Francesca Melandri, mit dem ich so meine Probleme hatte, und war - als ich bis dahin erschienen Kritiken überflog - erstaunt, wie sehr sich deren Wahrnehmung von meiner unterschied. Aber der Reihe nach. Vor der Wohnungstür einer Römerin in den besten Jahren steht eines Tages ein junger Schwarzer und stellt sich als Verwandter vor. Ihr Vater Attila, der Jahre in der früheren italienischen Kolonie Abessinien, erst aus geschäftlichen, dann aus militärischen Gründen verbracht hat, habe eine Zweitfamilie gegründet. Er sei der rechtmäßige Enkel, behauptet der Unbekannte. Die Anwesenheit schwarzer Menschen in Italien heutzutage wird so auf geschickte Weise mit der nicht aufgearbeiteten Geschichte Italiens als Kolonisationsmacht in Verbindung gebracht. Der Roman bietet sodann auf zwei Zeitebenen - der Gegenwart der Tochter, sowie der Vergangenheit des mittlerweile greisen und dementen Vaters - Unmengen von Material zum Thema Kolonialismus, das die Autorin jahrelang recherchierte. Der Ausgangskonflikt nimmt nur mehr geringen Raum ein, Hauptperson ist ohnehin der Vater, ein Ausnahmemann (daher: Alle, außer mir), welcher sozusagen als Forrest Gump des italienischen Faschismus und Kolonialismus in die verbürgten Dokumente montiert ist. Über diese Figur wird der Leser mit rassenkundlichen Vermessungen, Massakern, Leprakranken, Einsatz von Senfgas, egoistischem Umgang von karriere- und ruhmgeilen Befehlshabern mit Menschenmaterial konfrontiert. Attila bekommt kaum Luft, so viel historisches Wissen wird in ihn gepresst. Alles an dieser Figur ist im Übermaß: Er ist schöner als die anderen, schlauer und wendiger in seinen ideologischen Bekenntnissen; er ist übermäßig erfolgreich bei Frauen, hat das Glück immer an Orten zu landen, wo er nicht als Kanonenfutter eingesetzt wird; er ist aber auch übermäßig gefühlvoll, als er sich echt in eine einheimische Schwarze verliebt und mit ihr ein Kind zeugt, obwohl er sie dann verlässt. Ein Ausnahmemann, der aber doch für Italien und die grausamen Auswirkungen des Kolonialismus stehen soll. So hechelt man als Leser über weite Strecken durchs Archiv, weil Melandri die Umwandlung von Recherchematerial zu Literatur nur selten gelingt. Nur einmal, in der ausführlichen Beschreibung des Massakers, einem grausigen Gemetzel, gerät die Autorin in einen Furor, mit dem sie ihren Schrecken über die Untaten in Literatur verwandelt. Dass zu viel sachbuchhaftes Referieren die Handlung des Romans vernachlässigt, ist leider nicht das einzige Problem. Das zweite ist, dass das Buch - zumindest mutete es in der Übersetzung ins Deutsche so an - ziemlich schlecht geschrieben ist, so dass es weh tut, den Abläufen zu folgen. Ein Beispiel: “Seine Brust des Zwanzigjährigen weitete sich angesichts der großen Gemälde, die der Lauf der Geschichte für Italien entwarf und damit auch für ihn. Die Zustimmung zum Faschismus sprengte die engen Grenzen des Gefühlslebens seiner Mutter Viola, und die Lektüre des Quadrivio schenkte Attilio ein vages, aber unerschütterliches Gefühl der Erhabenheit. Er war erfüllt von Visionen, Streben und Sinnhaftigkeit.“ Dabei ist die Figur der Tochter Attilas durchaus interessant, weil widersprüchlich, gezeichnet. Ihr Körper spricht einem konservativen Politiker zu, ihr Geist und ihre Lebensdevisen sind sozialistisch. Sie selbst erfährt wenig über den Vater. Dafür wird der Leser mit Attilas schlimmen Taten zugedonnert, in dem erstaunlicherweise die Liebe zur einheimischen Schwarzen ebenso Platz hat. Eigentlich hielt mich nur noch die Verwunderung darüber bei der Stange, und ich wollte erfahren, ob es dazu irgendwann eine Erklärung gibt. Ich verrate hier das Ende nicht, weil ich trotz allem großen Respekt vor dem in „Alle, außer mir“ enthaltenen historischen Wissen habe. Aber ein guter Roman ist das nicht. Francesca Melandri: Alle, außer mir. Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2108

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