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wortberauscht

Posted on 5.5.2020

| © Janna von www.KeJasWortrausch.de | Das zweite Gesicht, dies soll Lisbeth Broussard haben. Verloren geglaubte Dinge wiederfinden, Vorahnungen haben, gar Visionen sollen sie überkommen. Zu mindestens damals als sie ein Kind war. Alle konnten es beobachten, mitten in der Kirche, als Lisbeth als kleines Mädchen den Schuldirektor als Serienmörder enttarnte. Nun sind viele Jahre über die Stadt gezogen. Die kleine Lisbeth ist eine erwachsene Frau, alleinerziehend. Sie ist ein Teil der Kleinstadt und viele haben vergessen, aber nicht alle. Bis heute besuchen sie Menschen, um verlorenes wiederzufinden. Doch dann beginnen die Morde erneut. Erwachsene diesmal, keine Kinder. Was mich direkt begeisterte war der Schreibstil des Autors! Wer meine Rezensionen kennt, weiß das ich nicht sonderlich davon angetan bin, wenn Beschreibungen zu ausführlich werden und nicht bedeutend sind für die eigentliche Geschichte. Hier geschieht dies fast nebenbei und erschafft dadurch einen Kriminalroman, welcher neben den Morden fast schon als Wohlfühl-Buch bezeichnet werden könnte! Ich mochte Lisbeth und den eigenbrötlerischen Ermittler Cordes. Die Art wie der Autor seine Protagonist:innen skizziert und das Leben in Worte hüllt, hat mich einfach gänzlich für sich eingenommen. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen eben auch diese zwei Menschen, deren Leben sich bereits vor dreißig Jahren überschnitt. Cordes war bereits an den damaligen Ermittlungen mehr oder weniger beteiligt, sein Leben verlief danach jedoch weiter in den gewohnten Bahnen. Er kümmert sich um seinen Sohn, der aufgrund einer problematischen Geburt zu wenig Sauerstoff bekam und eine andere Schule als Lisbeth besuchte. Dennoch waren die beiden zu Kindertagen mehr in Kontakt, als zu Anfang gedacht. Auch Moritz Rolle an sich nimmt zum Ende hin eine wichtige Rolle ein, auch wenn da die ein oder andere Frage für mich offen blieb. Für Lisbeth hat sich alles und doch nichts geändert. Sie wurde von den anderen schon immer gemieden und doch aufgesucht, wenn es etwas zu finden galt. Sie hielt Abstand zu den Menschen um sich herum. Die Jahre zogen ins Land und erst durch ihre Tochter fand sie Ruhe, ihre Gedanken kreiste nicht mehr, doch so ganz ließ sich ihre Vergangenheit nie abstreifen. Das Buch ist in mehrere Teile gegliedert, in einzelne Noten von Jazzstücken und in Jahreszeiten. Jeder Abschnitt verbirgt vergessenes, Erinnerungen beginnen zu bröckeln und bergen neue Bilder der Geschehnisse. Ein Mosaik, das sich von Seite zu Seite vervollständigt und sich der Wahrheit nähert. In einer kleinen Stadt, in der die Menschen an das zweite Gesicht glauben, glauben sie auch an tanzende Engel und kommende Geister! "Nichts ähnelt der Wahrheit weniger als die Erinnerung." (Seite 206) Doch was, wenn dieser Glaube trügerisch ist und die Erinnerung wenig mit der Wahrheit gemein hat? Eine Frage, die sich immer mehr in den Mittelpunkt der Ereignisse drängt und dadurch eine Neugierde meinerseits weckte! Jedoch konnte mich nicht alles überzeugen. Zu Beginn gefielen mir die bildlichen Darstellungen, wenn sich Gedanken in einen hineinkriechen und nicht mehr loslassen, ein ungutes Gefühl oder ähnliches. Der Autor hat sich dahingehend auf das Bauchgefühl eingelassen, was mir irgendwann zu präsent in der Geschichte wurde. Auch die späteren neuen Perspektiven, Utrecht und Kroll, hätten die Geschichte für mich nicht gebraucht. Dies nahm dem Buch etwas die Spannung. Zu früh waren Hintergründe bekannt oder klar, dass es einen vorangegangenen Verdacht deutlich beiseite schiebt. Welch Schutzmechanismen das Gehirn nutzen kann, gerade im Kindesalter, ist mir bewusst und doch hätte ich mir andere Hintergründe gewünscht. Wobei das nicht ganz stimmt, ich hätte mir einen nachvollziehbaren Auslöser gewünscht, einen speziellen Reiz bzw. Impuls, warum der Mensch mit den Morden begann. Es war mir zu konstruiert, was der Geschichte zum Ende hin doch etwas meiner Begeisterung kostete. Es ist ein kleiner Ort, das wird beim Lesen deutlich und das macht gewisse Ereignisse unglaubwürdig (Seite 239 – 241). Was mir besonders gefiel, war die Art wie verschiedenen Themen eingearbeitet und in Worte gehüllt wurden. Erinnerungen, ein Verdacht der sich in Köpfen niederlässt, welches Ausmaß einschneidende und tief gehende Erfahrungen haben – all dem nähert sich Autor, ohne dabei das Leseerlebnis zu erschlagen. Ebenso keine sich überholende Szenen oder Action, womit mein Geschmack absolut getroffen wurde. Ich weiß, dass ich mich wiederhole und ebenfalls weiß ich das andere Leser:innen nicht so angetan sind, aber ich bin einfach angetan davon, wie Autor Richard Lorenz aus Worte Sätze bildet. "Längst weiß Kroll, dass Erinnerungen ein merkwürdiges Eigenleben führen, sie verändern sich mit den Schicksalsschlägen der Zeit. Färben und entfärben sich, werden größer oder kleiner – und manchmal sterben sie sogar ein wenig, um später wieder aufzuerstehen." (Seite 141) Ein Kriminalroman ist es und doch unterscheidet sich dieses Buch etwas von anderen Krimis. Zum einen da es zu Beginn und eine lange Zeit lang eher mystisch ist und nicht die Ermittlungen im Vordergrund stehen, sondern Lisbeth. Sie versucht vergangenes und gegenwärtiges in Einklang zu bringen, sich bewusst zu erinnern und wird später fast überrollt von all jenen Bildern, die sich Bahn brechen! Ebenso im Fokus steht das, womit sich der Autor fast nebenbei im Text auseinandergesetzt hat. Trügerische Erinnerungen und Auswirkungen von erlebtem, was auch auf den Seiten 115 und 225 wundervoll formuliert wurde und mir einfach gut gefiel! Abgesehen von meinen Kritikpunkten bin ich einfach mega angetan! Ein Krimi ohne Blutrausch oder angeschlagenen Ermittler. Natürlich, Cordes ist nicht gerade ein Vorbild in Sache Zigaretten und mehr, aber er ist bodenständig und hangelt sich nicht von einem Bier zum nächsten Whiskey oder von einer Psychose in Suizid Gedanken. Ohne Blut kommen die Morde nicht aus, aber dies dient nicht zur Effekthascherei, sondern ist stimmig in die Geschichte hineingearbeitet und macht nur einen kleinen Teil des Ganzen aus. Sprachlich hat es mich von Beginn an gepackt! WORTKABINETT - Zitate die nicht ganz in den Kontext meiner Rezension passen: https://kejaswortrausch.de/hinter-den-gesichtern-richard-lorenz/

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