wandanoir
Von Interferenzen und Lebensaufgaben und dem Recht auf Selbstbestimmung. Kurzmeinung: Kann man leicht runterlesen, aber der Sinn des Ganzen erschließt sich nicht so einfach und ist stark interpretationsbedürftig. Die Autorin Anne Enright läßt in ihrem Roman „Die Schauspielerin“ die einzige Tochter der früher berühmten, später aber fast in Vergessenheit geratenen Schauspielerin Katherine O’Dell die Biografie ihrer Mutter schreiben. Insofern schreibt auch Anne Enright eine Biographie. Die Biographie einer fiktiven Gestalt. Man fragt sich lange Zeit, wozu dies gut sein soll. In loser, unchronologischer, aber nicht unlogischer Folge zeichnet die Tochter den Werdegang der Schauspielerin nach, spürt die Konfliktpunkte dieses Lebens auf, von denen es zahlreiche gab, angefangen von der Verschleierung deren Herkunft, sowohl familiär wie ethnisch und politisch, die verborgenen Liebhaber, eine ungewollte Schwangerschaft. Sie zeigt der Leserschaft die kurze lodernde Karriere der Schauspielerin, den Ruhm und seine Folgen, dabei aber auch das gleichzeitige Verheiztwerden von Katherines Persönlichkeit. Danach kommt der langsame, schmerzhafte Abstieg, ein Aufbäumen gegen das Karriereende, das Verlassenwerden, das Verlöschen. Bei jedem Abschnitt, den die Tochter schildert, fragt sie sich, wo sie selbst zu jenem Zeitpunkt war und setzt sich in Beziehung zu jedem einzelnen Lebenspunkt. Die Interferenz ihrer beider Leben ist die Thematik dieses Romans. Bei den Schilderungen der ersten erfolgreichen Filme hat man abwechlsungsweise einmal Audrey Heburn vor Augen (The Nun´s Story) oder Marylinn Monroe, die ihre Haarfarbe genau so wechseln musste wie Katherine O’Dell. Auch die geheimen Liebhaber passen ins Bild. Aber es geht nicht um das Nachahmen von realen Celebrities. Anne Enright spielt nur mit diesen Bildern, die insofern in unseren Köpfen entstehen, um der Vervollkommnung des Bildes willen. Denn Enright ist sehr gut darin, eine authentische Szenerie der Theater- und Filmwelt zu entwerfen, sie erfindet dabei Stücke, die es nie gegeben hat und flicht andere ein, die jeder kennt, zum Beispiel Shakespeares Stücke. Oder Gedichte. Auch alkohollastige Parties und umstrittene Drehbücher und Produzenten kommen vor. Alles eben. Samt Glamour und Hausboten und Therapiecouch. Man fragt sich eine Zeitlang, ob wir es vielleicht "nur" mit der Vatersuche einer Kindheit zu tun haben? Denn die Mutter hat Nora den Namen ihres Erzeugers verschwiegen (er verdient keinen Namen), er ist nicht wichtig, und tatsächlich spielt er in ihrer Zweisamkeit auch keine Rolle, aber natürlich ist Nora ein wenig neugierig, wer ihr Vater ist und nimmt auch Nachforschungen auf, später, nach dem Tod der Mutter, doch halbherzig, die Suche führt schnell ins Leere. Nein, die Vatersache ist nicht Brennpunkt des Romans. Nora hat auch kein Identitätsproblem, das heißt, nicht mehr als jeder andere. Sie kann sich gut abgrenzen von der Mutter und sie kennt sich ziemlich gut, ist anders, hat einen glasklaren Verstand, für den sie dankbar ist und lebt wenig in Illusionen. Die Entdeckung der Sexualität empfindet sie als befreiend. Sie ist eine moderne Frau, eine Zeitlang fast promiskuitiv. Auch darin liegt kein existentielles Problemfeld. Die Autorin macht es der Leserschaft nicht ganz einfach, Nora zu entschlüsseln. In ihren Beziehungen scheitert sie genau so häufig wie jeder andere Mensch, aber sie erlebt auch Glück. Noras Leben entsteht jedoch immer als Bezugspunkt zu den erzählten Stationen im Leben der Mutter. Und allmählich begreift man, worum es geht: um die Überlagerung. Nicht um Vereinnahmung, denn Katherine ist keine vereinnahmende Mutter. Es fällt Nora schwer, sich von der schillernden, facettenreichen Figur der Mutter zu lösen. Die Bekanntheit der Mutter hat der Muttergestalt mehr Gewicht verliehen als für Nora gut ist. Nora muss sich befreien, hat deshalb aber Schuldgefühle. Die Loslösung von der Mutter ist für Nora eine Lebensaufgabe über den Tod der Mutter hinaus. Fazit: Obwohl die geneigte Leserin den Roman „Die Schauspielerin“ anfangs so gar nicht mochte, hat sie sich mehr und mehr ins Buch ziehen lassen. Seine Stärke ist seine beiläufige Authentizität und sein Nachhall. Man muss über das Gelesene richtig heftig nachdenken und wahrscheinlich wird jeder dabei zu anderen Resultaten gelangen. Diese Rezension liefert eine der möglichen Interpretationen. (Natürlich die richtige!). Kategorie: Belletrisik Verlag: Penguin, 2020