Profilbild von stricki

stricki

Posted on 1.5.2020

Lesehighlight! Ich bin verliebt und so traurig, dass ich das Buch zu Ende gelesen habe. Solche Bücher sollten nicht enden dürfen. So ruppig, so schnodderig, so unromantisch. So voller Leben und leben lassen, voll ungeschriebener Regeln, kauziger Individuen, die das raue norddeutsche Klima und das Leben nie geschont haben. "Mittagsstunde" spielt in Brinkebüll in den 1960er-Jahren bis heute. Mittelpunkt sind Ella, Sönke, Marret und Ingwer. 3 Generationen. Ella und Sönke betreiben den Dorfgasthof, Tochter Marret ist nicht ganz von dieser Welt, so dass die Großeltern den kleinen Ingwer großziehen. Dieser zieht als einer der Wenigen hinaus in die weite Welt, strandet in Kiel, wird Hochschullehrer, wohnt über Jahrzehnte in einer WG, kriegt das plattdütsche Dorf aber nie ganz aus sich heraus. Als die Großeltern mit über 90 immer hilfsbedürftiger werden, verbringt er sein Sabbatjahr bei den Alten. Zuhause. Dörte Hansen beschreibt ihre norddeutsche Heimat mit so viel Liebe, ihre Bilder sind so fantasievoll wie treffend: "Kein Wind und kein Zement am Himmel, nur ein sehr hohes, klares Blau, die Osterglocken blühten."(S.276) "...weg vom Westwind, der in den kahlen Bäumen randalierte wie ein durchgedrehter Feldherr, an Zweigen riss und Eichenstämme rempelte, ein alter Wind, der viel gesehen hatte, Findlinge geschliffen."(S.16) Ganz besonders ist die Beschreibung der Dorfkultur. Wie funktionierte Dorf einst und heute? Was hielt die Gemeinschaft zusammen, worüber wurde geredet und worüber geschwiegen? Was ist gelebte Toleranz? Das Dorf verzeiht viel, es nimmt seine Bewohner, wie sie sind. Manchmal hart an der Schmerzgrenze, ja. An vielen Stellen bewunderswert. Kein Wunder, sehnen sich einsame Großstädter nach diesem Zusammenhalt. Der aber nichts romantisches hat, sondern im Gegenteil ziemlich knallhart sein kann. "Marret war wie etwas Flüchtiges, Verwehtes, das ständig seine Form veränderte, Sanddüne, Wolke, Quecksilber, sie hatte keine Grenzen."(S. 37) "Man quälte die Verdreihten nicht, man nahm sie hin wie Löcher in den Straßen oder das eine unberechenbare Rind, das es in jedem Kuhstall gab."(S.36) Aber aus urigen kleinen Landwirtschaftsbetrieben mit alten Ställen werden moderne Häuser mit Panoramafenstern, Windrädern und Massentierhaltung. Bucklige Dorfstraßen weichen begradigten Schnellstraßen, Dorfbäckereien, -schulen, Gasthöfe und Tante Emma Läden sterben. Das Leben verändert sich, auch auf dem Dorf. Es scheint, als wäre Unterleuten von Juli Zeh die Fortsetzung von Mittagsstunde. Ich wüsste aber nur zu gern, was aus Inwer geworden ist. Zieht er zurück nach Brinkbüll, wird er Gastwirt, findet er seinen Deckel?

zurück nach oben