mabuerele
„...Es gibt das Erzählen, und es gibt das Schweigen. Und es gibt die Fragen dazwischen...“ Wir schreiben das Jahr 2006. Während israelische Bomben auf Beirut fallen, lebt Amin zwei Autostunden entfernt. Dort erreicht ihn die Nachricht, dass seine Großmutter gestorben ist. Amins Gedanken gehen viele Jahre zurück. Der Autor hat einen beeindruckenden Roman geschrieben. Er ermöglicht mir einen Einblick in die Geschichte des Libanon. Der Schriftstil ist sehr abwechslungsreich. Das Besondere ist, dass die Geschehnisse nicht chronologisch erzählt werden. Das verlangt entsprechende Konzentration. Amin hatte seine Kindheit in Deutschland verbracht. Er war Waise. 1994 kehrt die Großmutter mit ihm nach Libanon zurück in ein für ihn fremdes Land. Es gibt sehr poetische Stellen im Buch. „...Den Vogel nahm ich wahr, weil er mich blendete. Er saß auf den obersten Ast des Apfelbaums, seine Federn reflektierten das Sonnenlicht...“ Zwei Personen prägen Amins Leben. Das sind seine Großmutter und Jafar, eine Junge aus Beirut, der in der Schule Kontakt zu Amin sucht. Beide Beziehungen sind nicht einfach. Seine Großmutter bezieht Amin kaum in ihr Leben ein. Es dauert, bis er hinter ihr Geheimnis kommt. Offen bleibt, warum es zum Bruch zwischen beiden kam. Jafar ist ein brillanter Erzähler. Zusammen mit Amin heckt er manche Dummheit aus, um an Geld zu kommen. Doch immer ist er der Gebende. Amin schaut zu ihm auf. Seine Vergangenheit bleibt lange geheimnisvoll. Die langsame Trennung zwischen den beiden Jungen ist schmerzhaft spürbar. Bei der Großmutter immer gegenwärtig ist Abbas. Er erscheint selbst zu ungewöhnlichen Zeiten. „...So ist das im Libanon […] Gäste kommen immer dann auf eine Tasse Kaffee vorbei, wenn man gerade tausend Dinge zu tun hat...“ Die Großmutter versorgt Amin eine Stelle im Nationalmuseum, damit er von der Straße wegkommt. Doch taucht Amin in die Welt der Bücher ein. Gleichzeitig lernt er Menschen kennen, die die orientalische Tradition der Märchenerzähler pflegen. Sabir Mounir lehrt ihn, selbst aus den zerstörten Büchern zu lesen. „...Heute glaube ich, dass auch die Arbeit im Museum ihren Teil dazu beitrug, dass ich genauer hinzusehen begann. Dass ich sogar dort nach Antworten suchte, wo zunächst nicht einmal Fragen waren...“ Eingebettet in das Buch sind die Geschichten vieler Menschen. Doch welche davon sind wahr? Das wird nicht immer deutlich. Ein Thema allerdings durchzieht das Buch wie ein roter Faden. Wo sind die vielen im Bürgerkrieg Vermissten? Amins Mutter hatte in Paris studiert. Eines ihrer Bilder trägt den Titel „Ein Lied für die Vermissten“. Das Buch enthält eine Menge an Informationen über das Leben im Libanon. Nach 1994 war es noch kein friedliches Land. Die Fragen der Vergangenheit harrten einer Antwort. Wer aufbegehrte, hatte mit Schikanen zu rechnen. „...Dieses Land war schon immer in der Hand mehrerer mächtiger Familien. Was das angeht, sind wir im Mittelalter stehen geblieben. Die Mörder, die ganz oben wohnen, sind heute unsere Politiker. Im Krieg haben sie Milizen angeführt, die sich bekämpft haben. Jetzt machen sie die Gesetze. Sie verhindern die Aufarbeitung und das Erinnern...“ Nach und nach begreift Amin, wie tief die politischen Verhältnisse in das Leben seiner Vorfahren eingegriffen haben. Sehr berührend sind manche seiner Gespräche mit Jafar. Hier arbeiten sie ihre Sorgen und Ängste ab. Das Schweigen seiner Großmutter ist für Amin nur schwer erträglich. Später wird er formulieren: „...Anzunehmen, dass Schweigen nachfolgende Generationen schützt, ist ein großer Irrtum. Das Gegenteil ist der Fall...“ Da weiß er schon, dass auch seine Eltern zu den Vermissten gehörten und dass die Reise der Großmutter mit ihm nach Deutschland als Baby eine Flucht war. Das Buch hat wesentlich mehr Facetten, als ich je in dieser Rezension unterbringen kann. Eine weitere zeigt sich bei Betrachtung der Wohnungen. Hier erkennt Amin, warum Flüchtlinge sich so einrichten, wie sie sich einrichten. Es ist immer nur als Heim auf Zeit geplant. Das Buch hat mir ausgezeichnet gefallen. Es ist eine Lektüre, für die man sich Zeit nehmen muss, wenn man in ihre Tiefen eindringen will.