Mario Keipert
Aufzeichnungen vom Rand der Existenz Wie oft habe ich das Herz-Sutra, das Sutra von der Vervollkommung der Weisheit des Herzens, auf Zen-Sesshins rezitiert, habe versucht, es zu verstehen, und schließlich versucht zu akzeptieren, dass es hier um eine Weisheit jenseits des Verstehens geht. In dem Roman Aufzeichnungen eines Serienmörders des koreanischen Autors Young-ha Kim bildet dieser zentrale Text des Buddhismus den Rahmen; der Protagonist, Byongu Kim, Tierarzt und "pensionierter Serienmörder", liest ganz zu Anfang in ihm und findet bis zum Ende Halt in diesen alten Zeilen: Von dem, was die Leute sagen, verstehe ich so gut wie nichts. Die Stelle aus dem "Herz-Sutra", die ich immer nur heruntergeleiert habe, geht mir jetzt nahe. Auf meiner Schlafmatte sage ich sie auf. Und tatsächlich: dieses schmale Büchlein, halb Krimi mit Anleihen bei Quentin Tarantino oder David Lynch, halb erschütternde Meditation über die menschliche Existenz in all ihrer Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit, macht erfahrbar, was es mit der Leere und der Form, mit der Vergänglichkeit und der Anhaftung (um mal so klassische buddhistische Begriffe zu gebrauchen), auf sich hat. Denn Byongu Kim, beim Einsetzen seiner Notizen 70 Jahre alt, ist dement. So entgleiten ihm nicht nur die Erinnerungen, sondern zunehmend auch das Verständnis für die Gegenwart. 25 Jahre nach seinem letzten Mord lebt er ein ruhiges, beschauliches Leben zusammen mit seiner "Tochter" Unhi. Oh falsch: Sie gilt zwar offiziell als seine Tochter, ist aber eigentlich ein Waisenkind, dessen Eltern von Kim ermordet worden. Oder war das eigentlich ganz anders? In den Notizen Byongu Kims taucht bald ein Mann auf: ein möglicher Serienmörder, der in der Gegend sein Unwesen treibt. Hat er es auf Unhi abgesehen? Will er sie ermorden? Oder will er dem einstigen Serienmörder Kim auf die Spur kommen? In jedem Fall geht von ihm eine Gefahr aus, die den Demenzkranken zum Handeln zwingt. Ein letztes Mal muss er also an die Zukunft zu denken. Er muss seine Tochter retten ... Oder ist alles doch ganz anders? Mit seinen kurzen Notizen schreitet die Handlung voran; im Schreiben und Ordnen seiner flüchtigen Gedanken scheint der alte Mann vor der zunehmenden Leere zu flüchten. Das entbehrt nicht der Komik, vor allem aber ist es bis zum Schluss geradezu unerträglich spannend – denn zunehmend realisiert man als Leser, dass Byongu Kim ein gänzlich unzuverlässiger Erzähler ist. Denn vielleicht ist alles eben doch: ganz anders? Ein furioser Krimi, der die Leere erfahrbar macht, die hinter unser aller Identität aufscheint, die Haltlosigkeit und die Verzweiflung; eine schonungslose Innenschau in die condition humaine; ein Krimi, der einmal mehr aufzeigt, wie sehr die erlebte Wirklichkeit ein Konstrukt ist, das sich unter der Hand auflösen und verflüssigen kann. Am Ende bleibt eben nicht viel mehr als die Weisheit des alten Sutras ...