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anne_hahn

Posted on 11.4.2020

Mein kleiner Buchladen: frische Bücher – Stern 111 Eine Woche lang blieb Carl auf seinem Floß und ließ sich treiben. Er war ein Flusspirat des Mississippi und ignorierte das Klopfen an der Tür. Ab und zu schleppte er sich in die Küche, um etwas von seinen Vorräten ans Bett zu verlegen; der Vorratsschrank unter dem Küchenfenster war gut gefüllt. Es ist schon einige Wochen her, dass ich Lutz Seilers zweiten Roman Stern 111 las, vieles bewegt mich jetzt anders, neu. Es ist die Stimmung dieses Nebelbuches, welche mich einholt. Der Übergang, das Zeit haben. Zuhause sein, die Matratze als Floß begreifen, die Vorräte ans Bett verlagern. Carl, die in der dritten Person geschriebene Hauptfigur des Romans, lebt Anfang der Neunziger in einem roten Hinterhaus des Prenzlauer Berges, ohne Telefon, Radio und Zeitung. Schreibt Gedichte und Briefe an seine Eltern, die einem Traum folgen. Besetzt eine Wohnung mit Hilfe von Ragna, der "Frau aus Fell und Wolle", die eine Hebammentasche voll Werkzeug bei sich führt und ihn zum Rudel bringt, welches im ausgedünnten und regellosen Ostberlin herumtollt. Holunder, Birken, Unterholz. In die Bombenlücke war ein kleiner Wald gewachsen, durch den ein schmaler Pfad zum Hinterhaus führte. Ohne zu zögern, betrat Ragna das Dickicht, und Carl folgte ihr. [...] Schon im Wäldchen hatte Ragna begonnen, sich indianisch zu verhalten. Sie ging jetzt gebückt und wie auf leisen Sohlen. Sie stiegen über eine links vom Eingang gelegene, halb eingestürzte Außentreppe in die Tiefe und durchquerten das Haus. Der Kellergang war überschwemmt. "Das war nicht immer so", erklärte Ragna, als überschaue sie Jahrzehnte. Meine erste eigene Wohnung hatte ich in Magdeburg-Buckau besetzt, auf einer Seite begrenzt vom Schienengewirr der westwärts führenden Bahnstrecke, auf der anderen von einer Kleingartenanlage. Ich stemmte Löcher in die Wände und fädelte Balken aus dem Abrisshaus nebenan hinein, legte Türen drauf und Matratzen, malte einen Baum an die Wand und stellte meine Weinballons an den Stamm. Ich sah oben von meinem Schiff die Züge gen Westen fahren, die Fabrikschlote hinter den Gärten malten den Himmel aus. In der Wohnung fand Carl ein paar Dinge, die zurückgelassen worden waren: ein Vertiko, ein zerbrochenes Bettgestell und einen alten Schwarzweißfernseher, der mit dem Bildschirm zur Wand stand, als schäme er sich für irgendetwas. Es handelte sich um eine dunkle Einzimmerwohnung mit einem winzigen Flur, von dem auch die Küche abzweigte. In der Küche stand eine Werkbank, ein massives aus Eichenbohlen und Winkelstahl zusammengeschraubtes Stück, das den schmalen Raum beinahe vollständig ausfüllte; sonst gab es nichts. 1990 zog ich von Köln nach Berlin Prenzlauer Berg, mit einem Rucksack und per Mitfahrzentrale, fand im Schliemann-Café neue Kumpels, einer übergab mir den Schlüssel für die Wohnung seines Nachbarn, der war weg. Dimitroffstraße (heute Danziger), ein Zimmer, Seitenflügel, die Wände schwarz gestrichen und in halber Höhe des Berliner Zimmers eine Hochbettetage eingebaut, im Kühlschrank stand noch trinkbare Milch. Er schaltete das Deckenlicht ein. Im flaschengrünen Glas des Staßfurt spiegelte sich sein Zimmer. Und da war auch er, Carl Bischoff, der jetzt näher kam, mit einem Gedanken: Das Netzkabel reichte genau bis zur Dose. Es dauerte einen Moment, dann war seine Fernsehkiste von einem rauschenden, jaulenden Schneetreiben erfüllt. Zuerst rauschte es sehr laut, aber es ließ sich leiser stellen. Vielleicht ist Lappke schwerhörig gewesen, dachte Carl. Ab und zu trat ein Umriss aus dem Sturm hervor, aber immer nur für Sekunden - "Lappkes Geister", flüsterte Carl. Mehr war nicht zu sehen, ohne Antenne. Nachdem eines Abends eine dunkle Gestalt neben mir gestanden hatte, als ich einen Brief schrieb, fühlte ich mich beobachtet im Hochbettreich und zog in die Kollwitzstraße, ein Freund war aufs Land übergewechselt. Zweizimmerwohnung, riesiges Bad, dort hatte sein Motorrad gestanden und ich roch das Öl, wenn ich in der Wanne lag. Wir hockten stundenlang auf den Dächern und nachts fingen wir an, in den Kellern zu tanzen.

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