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Daniel Welsch

Posted on 10.4.2020

Er glaube nicht, dass „Boys Don’t Cry“ ein besonders gut geschriebenes Buch sei, lässt Jack Urwin den SPIEGEL wissen. Dass er mit 23 Jahren und ohne viel Ahnung von dem Thema einen Buchvertrag bekommen habe, beweise immerhin, wie privilegiert er als weißer Mann sei. Das mag ehrlich und angenehm uneitel wirken, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Jack Urwin ein schlecht recherchiertes, uninspiriertes und toxisches Buch über (toxische) Männlichkeit geschrieben hat. Das Patriarchat schadet auch Männern, so lautet die gar nicht so neue These von „Boys Don’t Cry“ – und die Biografie Urwins liefert dafür ein anschauliches Beispiel: Sein Vater starb mit 51 Jahren an einer Herzattacke, bei der Obduktion fand man Spuren eines früheren Infarkts, den der Vater nicht behandeln ließ. Keine Schwäche zeigen, keine (medizinische) Hilfe in Anspruch nehmen und unbeirrt weitermachen – diese gesellschaftlich als „typisch männlich“ gelesenen Verhaltensweisen haben zum frühen Tod von Urwins Vater geführt. Damit ist er kein Einzelfall, wie eine Statistik zeigt, die der britische Autor in „Boys Don’t Cry“ wieder und wieder runterbetet: Im Vereinigten Königreich ist die Zahl frühzeitiger Todesfälle bei Männern anderthalb Mal höher als bei Frauen, die Selbstmordrate sogar dreimal so hoch. Statistiken, wie sehr das Patriarchat Frauen schadet, beispielsweise Erhebungen zu häuslicher Gewalt gegen Frauen oder Femiziden, sucht man im Buch dagegen vergeblich. Im Verlauf des Buches stellt sich heraus, dass die erwähnte These, dass das Patriarchat auch Männern schade, gar nicht Urwins wahre Überzeugung ist. Vielmehr glaubt er, dass die heutige Gesellschaft vor allem Männern schade. Sie sind die einzigen Opfer toxischer Männlichkeit, für die sich das Buch wirklich interessiert: „Selbstmord ist das zerstörerischste Symptom toxischer Männlichkeit und dasjenige, dem wir die größte Aufmerksamkeit schenken müssen.“ (S. 61) Was toxische Männlichkeit Frauen oder auch Transpersonen antut, wird nur nebenbei thematisiert. Nach Meinung Urwins sind es auch Männer, die am meisten unter den gesellschaftlichen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit leiden – wie er am Beispiel gegenderter Spielzeuge beweisen will. Dank der Erfolge des Feminismus hätten junge Mädchen heute so viele positive Rollenbilder, dass sie „die Etiketten, die man ihnen aufzwingen will, ignorieren“ (S. 57) und dennoch Astrophysikerin, LKW-Fahrerin oder US-amerikanische Präsidentin werden – „doch eine entsprechende Bewegung von Männern in traditionell weibliche Territorien hat nicht stattgefunden“ (ebd.), weshalb Spielzeug-Werkzeugkästen für Jungen die wahre „Abscheulichkeit“ (ebd.) seien. Dass jegliche Statistiken und wissenschaftlichen Erkenntnisse dieser Behauptung widersprechen, ist kein Problem für Jack Urwin, weil er mit „Boys Don’t Cry“ gerade kein akademisches Buch schreiben wollte und deshalb (abgesehen von der Sterblichkeitsrate von Männern) auf Statistiken und (wissenschaftliche) Belege für seine Behauptungen größtenteils verzichtet. Der sehr spärliche Einsatz von Quellenangaben ermöglicht es ihm außerdem, längst bekannte Überlegungen und Erkenntnisse aus Soziologie, Gender Studies oder verwandten wissenschaftlichen Feldern als seine eigenen darzustellen. Damit macht er auch die Arbeit vieler Feministinnen unsichtbar, die bereits seit Jahrzehnten betonen, dass das Patriachat auch Männern schade. Im Schlusskapitel von „Boys Don’t Cry“ klopft sich Jack Urwin dafür auf die Schulter, dass sein erster VICE-Artikel über Männlichkeit sowohl von Feminist*innen als auch von Männerrechtsaktivisten gelobt wurde. Dass ihm das nicht zu denken gibt, zeigt, wie unreflektiert Urwins Verhältnis zu (toxischer) Maskulinität ist.

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