DasIgno
Vier und Neun kommen als Straßenbauer für einen großen Konzern in ein vom Bürgerkrieg zerstörtes Land. Sie sollen einen modernen Highway zwischen dem armen Süden und dem reichen Norden bauen. Während Vier das Geschäft kennt und so stoisch und regelkonform wie möglich die Arbeit verrichten will, gerät er zunehmend in Konflikt mit Neun, einem Lebemann, der gegen alle Konzernregeln möglichst viele Erfahrungen mit der fremden Kultur mitnehmen möchte. Als einer der beiden plötzlich schwer erkrankt, beginnt ihr Leben dramatische Wendungen zu nehmen und über allem schwebt die Frage, ob sie den Menschen wirklich helfen. ›Die Parade‹ ist Dave Eggers’ neuester Roman. Er erschien 2020 bei Kiepenheuer & Witsch und umfasst 192 Seiten, die sich in 23 Kapitel gliedern. ›Die Parade‹ ist als Parabel angelegt. Für mein Rezensionsexemplar bedanke ich mich bei KiWi und NetGalley. ›Die Parade‹ war für mich so eine typische Zufallswiederentdeckung. Meine ersten Erfahrungen mit Dave Eggers hatte ich vor Jahren mit ›Der Circle‹ gemacht, ich war rundum begeistert, hatte mir vorgenommen, insbesondere noch an seine ausgezeichneten Bücher zu gehen, das ging dann irgendwie vergessen (ihr kennt das). Dann wurde mir ›Die Parade‹ zufällig auf NetGalley empfohlen und ich dachte mir, Eggers, da war doch was, bei KiWi, dann kann schon nichts schief gehen, fragste mal an. Und siehe da, alles richtig gemacht. Was an ›Die Parade‹ schnell auffällt, fast die komplette Handlung ist im Klappentext schon vorweg genommen und sie klingt, so als Spannungskurve, gar nicht so spektakulär. Tatsächlich ist die Handlung in einiger Hinsicht ziemlich minimalistisch angelegt: Fast das ganze Buch findet auf bzw. an der Straße, die die beiden Protagonisten bauen, statt. Die wenigen Figuren, die überhaupt eine nennenswerte Rolle spielen, brauchen nicht einmal richtige Namen. Die Handlung an sich ist kein Spektakel, wirklich nicht. Trotzdem, und das hat mich wirklich überrascht, kann man das Buch nicht auf die Seite legen. Eggers erzeugt eine ganz subtile Spannung, die sich aber eben nicht auf Spektakel, sondern auf der Geschichte selbst begründet. Schwer zu erklären, ich verstehe das selbst nicht so genau, aber es ist faszinierend. Obwohl auch Eggers’ Charaktersetting minimalistisch daher kommt, könnten seine Protagonisten nicht unterschiedlicher sein. Eggers’ Erzähler begleitet Vier, einen Straßenbauveteranen. Vier kennt nur seinen Auftrag und die Konzernregeln, die jeglichen Kontakt zur einheimischen Bevölkerung streng verbieten. Der Auftrag hat quasi eine Deadline, denn eine große Parade ist zur Einweihung der Straße geplant – die zudem als großes Zeichen im Friedensprozess verstanden wird. Vier ist fest entschlossen, die Deadline einzuhalten. Doch obwohl hochgradig stoisch, zwingen ihn die Umstände dazu, eine Entwicklung durch zu machen. Ihm gegenüber steht Neun, der praktisch in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Vier ist. Die Straße ist Neuns erster Auftrag für die Firma und er ist begierig darauf, möglichst viel von Kultur und Menschen mitzunehmen. Die Regeln sieht er eher als nett gemeinte Information, Ernst nimmt er sie nicht. Dabei missachtet er nicht nur die scheinbar vollkommen überzogenen Regeln, sondern auch die, die tatsächlich erkennbar Sinn machen. Mit Vier und Neun treffen zwei Charaktere aufeinander, die nur in einem großen Knall kollidieren können. Doch die Umstände zwingen sie, neue Seiten an sich zu entdecken. Das alles findet in einem Aufbauhilfeszenario statt, das immer wieder über die großen Fragen nachzudenken anregt. Wie hilfreich sind die vermeintlich gut gemeinten Eingriffe des Westens in sog. Entwicklungsländern? Wie viel Selbstlosigkeit steckt dahinter und wer profitiert eigentlich wirklich? Und wie geht man damit um, wenn gut gemeinte Hilfe plötzlich den Weg in die Katastrophe bahnt? Dave Eggers beantwortet diese Fragen nicht wirklich, aber er regt eindrücklich dazu an, genauer hinzusehen. Aufbau- und Entwicklungshilfe hat ihre Schattenseiten mit teils drastischen Konsequenzen. Die werden oft überspielt. ›Die Parade‹ hat mich in einiger Hinsicht beeindruckt. Insbesondere durch die ganz spezielle Art der Spannung, die Eggers aus einem scheinbar wenig ergiebigen und im Klappentext schon fast auserzählten Plot generiert. Aber auch durch die Art, wie er ganz subtil zum Nachdenken anregt. Ein wohl immer aktuelles Buch und literarisch ein echtes Schmuckstück.