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stinsome

Posted on 3.4.2020

»Kennt ihr das, dass man manchmal gar nicht weiß, wie durstig man ist, bis man den ersten Schluck trinkt?« (2%) »Dry« hatte ich seit seinem Erscheinen auf dem Schirm, weil ich erstens, seit ich Scythe gelesen habe, große Stücke auf Neal Shusterman halte, und zweitens die Thematik unglaublich wichtig und gar nicht mal so undenkbar ist. Meine Erwartungen waren dementsprechend hoch, konnten aber von Shusterman und seinem Sohn mehr als getroffen werden. Schon auf den ersten Seiten schleicht sich das unterschwellige Gefühl von Bedrohung an, das sich auf den folgenden Seiten immer mehr in die Höhe schraubt. Gemeinsam mit Protagonistin Alyssa wird man in eine andere Wirklichkeit geworfen, eine, in der das Wasser von einem Tag auf den anderen urplötzlich und ohne Warnung abgestellt wird und von jetzt auf gleich bizarre Wasserknappheit herrscht. Mit ihrem flotten, jugendlichen und intelligenten Schreibstil kreieren Neal und Jarrod Shusterman eine bedrohliche, unheilvolle Atmosphäre, die dadurch noch verstärkt wird, dass sie so erschreckend realistisch und greifbar wirkt. Hier wird wahrlich eine Zukunftsvision entworfen, die von unserer Realität nicht allzu weit entfernt zu sein scheint. »Irgendwas fühlt sich komisch an. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber es hängt in der Luft wie ein Geruch. Es ist die Ungeduld der Menschen vor den Kassen. Fast wie mit einem Rammbock bahnen sich die Leute mit ihren Einkaufswagen einen Weg durch die Schlangen. Es herrscht eine Art primitive Ur-Feindlichkeit, nur verdeckt von einer dünnen Schicht aus vorstädtischer Höflichkeit, die langsam fadenscheinig wird.« (3%) Wir lesen aus der Sicht mehrerer Personen: hauptsächlich einer Gruppe Jugendlicher, die unsere Protagonisten sind, hin und wieder finden sich aber auch Sequenzen von vermeintlich zufälligen Menschen, die sich ebenfalls in irgendeiner Weise dieser Krise ausgesetzt sehen. Irgendwie hängt aber doch alles zusammen, alles spielt irgendwo eine Rolle. »Für eine Wasserkrise gibt es keine Radarbilder. Keine Sturmfluten, keine Trümmerfelder. Der Tap-Out ist so lautlos wie Krebs.« (6%) Die Anfänge verfolgen wir vor allem aus Alyssas Sicht, einem Mädchen, das nicht weit vom Schulabschluss entfernt ist und gemeinsam mit ihren Eltern, ihrem Onkel und ihrem kleinen Bruder die ersten Probleme zu bewältigen versucht, die unmittelbar nach Abdrehen des Wassers nicht lange auf sich warten lassen. Wir starten also in einem Umfeld, das den meisten von uns bekannt vorkommen dürfte, und verfolgen schrittweise mit, wie sich die Lage immer mehr zuspitzt. Neben Alyssa lesen wir zu großen Teilen auch aus der Sicht von ihrem Nachbarn Kelton, der schon seit Ewigkeiten in Alyssa verliebt ist und dessen Familie sich als einzige in der Gegend wirklich auf die herannahende Katastrophe vorbereitet hat: sie haben Lebensmittel- und Wasservorräte und sind nach kurzer Zeit auch noch die einzigen mit Strom. Nicht schwer zu erraten, dass das bald einige Schwierigkeiten mit sich bringt, denn je durstiger die Menschen werden, desto mehr büßen sie auch von ihrer Menschlichkeit ein. »Wenn es ums Überleben geht, hat man keine Nachbarn!« (22%) Mit der Zeit gewinnen wir noch zwei weitere wichtige Charaktere dazu: Auf der einen Seite haben wir Jacqui, einer draufgängerischen jungen Frau, die sich schon seit Längerem alleine durchschlägt und in leerstehenden Häusern einnistet, und auf der anderen Seite haben wir den berechnenden Henry, der jede noch so ungünstige Situation zu seinem Vorteil zu nutzen versucht. Zu fünft ergeben sie ein bunt durchwürfeltes Grüppchen, in dem Vorsicht und Misstrauen an der Tagesordnung stehen. Auch wir als Leser wissen nie, was wir von den einzelnen Figuren zu erwarten haben. Dazu trägt auch bei, dass hier unglaubliche Charakterentwicklungen gezeichnet werden. Entwicklungen, die manchmal eine Gänsehautwelle bei mir zur Folge hatten. Man kann sich bei manchen Charakteren zwei klare Situationen herauspicken und einander kontrastiv gegenüberstellen, so klar und unerbittlich führen die Shustermans uns hier vor Augen, wie sehr wir uns angesichts einer derartigen Katastrophe verändern können, wenn sie uns zum Überlebenskampf herausfordert. Und all das geschieht durchaus glaubwürdig und realistisch und bringt einen wirklich zum Nachdenken: Würde ich mich in der Situation genauso verhalten, wenn meine Werte von jetzt auf gleich verschoben wären? Wenn in meinem Kopf nichts anderes Platz hätte als der Wunsch nach Wasser? Unmöglich, diese Fragen zu beantworten, wenn man sich der Situation nicht selbst ausgesetzt sieht. Das Leseerlebnis, das durch einige herausstechende Momente, die besonders berühren, erschrecken, Gänsehaut oder Tränen auslösen, sehr intensiv wird, ist auch deshalb so eindrucksvoll, weil die Autoren so viele intelligente, philosophische Gedankengänge und interessantes Wissen einstreuen, sodass man sich als Leser nebenbei auch noch weiterbilden kann. Was passiert, wenn der Ausnahmezustand ausgerufen wird? Wie lange kann man ohne Wasser überleben? Wie fühlt es sich an, zu verdursten? »Wir kennen alle dieses Gefühl, wenn man nur für den Bruchteil einer Sekunde überlegt, sein Auto in den Gegenverkehr zu steuern. Oder von einem Balkon zu springen. […] Natürlich würde man keins dieser Dinge tatsächlich tun, doch das Gefühl ist da, wie ein Wind im Rücken, der einen sanft drängt, wenn man am Rand einer Klippe steht. […] Mein Psychiater […] nennt dieses Gefühl „den Ruf der Leere“. Es ist ein reales Phänomen […].« (32%) »Dry« hat bei mir nicht selten einen Nerv getroffen, mich schockiert, überrascht und berührt, aber mich haben vor allem die vielen eingestreuten Informationen und philosophischen Gedanken beeindruckt. Das einzige, an dem ich ein klein bisschen etwas auszusetzen habe, ist das Ende, das man fast schon als flott und schonend bezeichnen kann. Es geht am Ende alles sehr schnell und vergleichsweise positiv vonstatten, was ich mir bei dem Gesamtbild anders vorgestellt hätte. Man darf aber nicht vergessen, dass es sich hier um ein Jugendbuch handelt und dafür finde ich die erschreckenden Ausmaße einer derartigen Krise angemessen dargestellt. Nicht zu harmlos und beschönigend, aber auch nicht zu verstörend und trostlos. Mit Blick darauf kann ich darüber hinwegsehen und mein insgesamt begeisterter Eindruck wird davon nicht getrübt. Fazit Ich bin also wieder einmal völlig hin und weg. Wer nach einem Shusterman-Buch greift, kann sich sicher sein, dass er nicht nur zu seiner bloßen Unterhaltung liest, sondern auch noch mit spannendem, interessantem Wissen gefüttert und zum Nachdenken angeregt wird. Von mir gibt es eine absolute Leseempfehlung an absolut jeden Leser über 14. Volle Punktzahl!

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