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Lichti

Posted on 2.4.2020

Wie wäre die Welt, wenn unsere Emotionen nicht mehr uns allein gehören würden? Wenn das, was wir fühlen, auch beim Gegenüber ankäme – nicht nur durch Gesten und Mimik, durch das, was man gemeinhin als Emathie bezeichnet, sondern elektronisch vermittelt? Wären die Menschen freundlich zueinander, weil sie den Schmerz des Anderen fühlen könnten? Und ist das am Ende wirklich so gut, wie es sich anhört? Es ist schwer, dieses Buch zu beschreiben, ohne sich in Spoilern zu verlieren. Gefühlt ist jede neue Wendung, über die ich gern geschrieben hätte, etwas, was ich dem neu geneigten Leser vorweg nehmen würde. Spannend bis zum Schluss! Als großer Fan des Cyberpunks, wie es der Neuromancer begründet hat und von Science-Fiktion von Asimov geprägt, bin ich immer offen für neue Ideen in diesem Bereich. Ein allumfassendes Empathienetzwerk hat natürlich mein Interesse geweckt. Die Welt, in der Cyberemapthie spielt, ist dabei insgesamt natürlich hoch entwickelt; es wird auf eine schön nebensächliche Weise immer wieder eingeflochten, was das Ganze sehr plastisch erscheinen lässt. Kybernetik und Genetik kämpfen um die Vorherrschaft. Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, ob ich eine biologisch optimierte Hand besitzen wollen würde oder eine perfekt ausgestattet mechanische. Das Eintauchen in die Welt fällt daher leicht, genauso, wie das Einlassen auf das Cybernet. Ich habe mich hin und wieder durchaus gefragt, ob ich überhaupt fühlen wollen würde, was der andere fühlt – immerhin sind es nicht nur positive Emotionen. Hier kommt schnell Leon, der Protagonist, ins Spiel, der als Erinnerungskonstrukteur genau die negativen Emotionen bei Erinnerungen verändert. Auch das ist ein unfassbar interessanter Gedanke – das Problem wird dabei allerdings auch rasch klar: Was sind negative Erinnerungen? Wann darf ich sie beeinflussen und wann gehören sie zum Charakter? Machen uns diese Erinnerungen nicht genauso aus wie all die positiven? Insgesamt wirkt die Welt von Cyberempathy gut durchdacht und hat (für mich!) neue und tolle Ansätze, über die man vermutlich eigene Aufsätze verfassen könnte. Leon, der Erinnerungskonstrukteur, wird nach einem Auftrag in die Unterstadt abgeschoben – eine Welt ohne das Cybernet und damit ohne Cyberempathy. Er trifft auf Dreck, Gewalt und Lügen. Plötzlich auf das angewiesen zu sein, was für unsereins alltäglich ist, führt gerade zu Beginn zu absurden Gedanken und Situationen, die mich immer wieder haben schmunzeln lassen. Die Verbindung von dem emotional überforderten Leon und dem kühlen Rade, dem er dort begegnet, lässt immer wieder beinahe philosophische Gespräche aufkommen, die mich länger beschäftigt haben. Insbesondere in diesen Gesprächen liegt auch die Stärke des Buches, dass den Fokus weniger auf Action, als viel mehr auf die Frage legt: Was macht einen Menschen aus? Was Emotionen? Was sind die Vorteile davon, sie allein zu besitzen – und welche nicht? Wo hört die Lüge auf und fängt die Wahrheit an? Und möchte man das eigentlich manches Mal so genau wissen? Fragen, die insbesondere in der heutigen Zeit immer wieder aufkommen können, weil das, was dort beschrieben ist, nicht so weit entfernt ist, wie man es sich vielleicht erhofft. Insgesamt hat das Buch Spaß gemacht. Der Schreibstil ist fesselnd, auch wenn man die Art der Gedanken (sie kursiv auszuformulieren) mögen muss. Ebenso wie den Fokus auf die Gespräche und die Philosophie hinter der Welt. Einige Dinge waren für mich schon früh vorhersehbar, andere Sachen absolut überraschend und gerade zum Ende hin überschlagen sich die Ereignisse mit starken Wendungen. Hier hätten vielleicht noch ein paar Seiten mehr gut getan, aber vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich gern noch mehr Zeit mit Leon, Rade und Lux verbracht hätte. Das Buch regt zum Nachdenken an, über einen selbst und über das, was kommen kann. Wie ich schon zuvor erwähnt habe, wüsste ich nicht, ob ich mich darauf einlassen würde – andererseits, wenn ich bedenke, dass ich noch vor einigen Jahren für mein erstes Smartphone ausgelacht worden bin, weil man da ja „nicht braucht“ und sowieso „nur eine Erscheinung“ ist, ist die Frage nicht ob, sondern eher wann man sich darauf einlassen würde. Für alle, die diese Frage übrigens interessant finden, hat der Verlag noch ein nettes Schmackerle im Petto: Eine Was-würdest-du-tun?-Kurzgeschichte, in der man genau diesen Fragen nachgehen kann. Sehr geil! Ich würde das Buch jedem empfehlen, der wieder mal richtig guten Cyperpunk lesen möchte, aber dabei nicht von einer Schlacht in die nächste gestoßen werden möchte, sondern sich vor allem für die Welt und die Ethik dahinter interessiert. Insgesamt ein sehr gutes Buch, dass lediglich für einige inhaltliche Dinge – ich bin einfach kein Fan der ausformulierten Gedanken und manches Mal wirkten Leons Gedanken schon recht einem „vorgeschmissen“ - einen Punkt Abzug gebe. Wer sich daran nicht stört, hat einen wahren Lesegenuss vor sich!

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