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nonostar

Posted on 31.3.2020

Ich schlage das Buch zu und bin sprachlos. Ich möchte weinen und um mich schlagen, irgendetwas kaputt machen. Ich bin verzweifelt, traurig, erschüttert aber auch wütend. Wütend auf die Gesellschaft, die Frauen in dem Glauben lässt, Schuld zu sein, Scham empfinden zu müssen. Wütend auf die Menschen, die sich wegdrehen, die Augen verschließen, die nicht hinhören, wenn jemand stumm um Hilfe schreit. Und noch viel wütender bin ich auf die Menschen, die so etwas unaussprechliches tun, die anderen Menschen Gewalt zufügen, einfach nur, weil sie es können, weil sie stärker sind, sowohl körperlich als auch psychisch, die ihre Position ausnutzen und andere Menschen nur als Gegenstand sehen, den sie benutzen, den sie besitzen dürfen. "Scham" ist kein einfaches Buch. Weder Thematik noch Sprache schmeicheln dem Leser. Doch das ist gut so. Es geht um ein Thema, das keine Worte beschönigen können und das man nicht verharmlosen kann. Sexuelle Gewalt. Marie hat ein gutes Leben, sie ist glücklich, Laurent und sie haben beschlossen, endlich ein Kind zu bekommen, eine eigene Familie zu gründen. Doch dann wird die Welt von Marie von einem Tag auf den anderen auf den Kopf gestellt und in Fetzen gerissen. Ihr Chef vergewaltigt sie auf dem Heimweg auf brutalste Weise. Wieder zu Hause verkriecht sie sich im Bett und versucht die Folgen zu verstecken. Und niemand bemerkt etwas. Dabei spricht doch jede ihrer Bewegungen eine eindeutige Sprache, Marie versteht nicht, wie niemand ihre Veränderung bemerken kann. Gleichzeitig ist sie froh, hofft, dass es niemand herausfindet. Die Scham ist zu groß. Die Angst, verstoßen zu werden, Angst, dass man sie komisch anschaut, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Nicht mal ihrem Mann fällt etwas auf. Im Gegenteil, er nötigt sie zu sexuellen Handlungen, merkt nicht, wie sehr sie sich innerlich dagegen sträubt. Doch sie lässt ihn, wieder aus Angst, dass er etwas merkt. Sie verliert ihren Körper, alles tut ihr weh, doch sie gibt nach, fügt sich. Irgendwann stellt Marie fest, dass sie schwanger ist. Endlich bekommt sie das Kind, dass sie und Laurant sich so sehnlichst wünschen. Doch für Marie ist dies kein Grund zur Freude, sie ist davon überzeugt, dass das Kind durch die Vergewaltigung entstanden ist, es ist für sie eine stete Erinnerung an diesen einen Moment, der alles verändert hat. Sie hasst dieses Kind, hasst sich selbst und alle um sich herum. Alle sehen nur noch das Kind, sie muss zurücktreten, fühlt sich nur noch als Bauch, als Hülle für ein neues Lebewesen. Sie kann nicht mehr, verliert sich in Gewaltfantasien, sie will dieses Kind nicht und fühlt sich doch nicht im Stande, zu entkommen. Bayard schildert Maries Leidensweg schonungslos. Sie zwingt den Leser dazu, hinzusehen, hinzuhören, zwingt ihn die Gewalt zu erleben, zu fühlen, zu leiden. "Scham" ist sicherlich kein Buch, das man uneingeschränkt empfehlen kann. Aber dennoch sollte es jeder gelesen haben, der diese Thematik aushalten kann. Es ist ein wichtiges Buch. Man möchte laut schreien und allen, die wegsehen die Augen öffnen. Sexuelle Gewalt betrifft alle Menschen, nicht nur die, die sie tatsächlich erleben mussten. So viele Menschen haben täglich Angst durch die Straßen ihrer Stadt zu gehen, Angst vor Übergriffen. V.a. als Frau kenne ich dieses Gefühl nur zu gut. Und es ist ein Gefühl, das niemand fühlen sollte. "Scham" bietet kein Happy End, kein Annehmen, kein Aufwachen. Denn die Hoffnung auf Erlösung gibt es nicht für Marie. Sie hat nur ihr Schweigen.

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