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sinnesgleich

Posted on 30.3.2020

"Wir alle sind bis zum Äußersten strapaziert; wir zittern, wir beben, wir sind immer auf der Hut. Terrorregime, sagte man einst, dabei regiert der Terror gar nicht. Er lähmt. Daher die unnatürliche Stille." Wenn auch vollkommen anders, ist Atwood´s "Die Zeuginnen" keineswegs schlechter als "Der Report der Magd". Während letzterer primär durch seine Sprachgewalt, Intensität, Vielschichtigkeit und eine vergleichsweise ruhigere Handlung überzeugt, beweist die Autorin hier ihr Können anhand verschiedener Perspektiven, feinfühliger Einblicke in die Funktionsweisen eines totalitären Staates, sowie einer unglaublich spannenden Handlung. Die Geschichte spielt rund 15 Jahre nach den Geschehnissen rund um die Magd Desfred. Erzählt wird die Handlung aus drei verschiedenen Perspektiven: Die des in Gilead geborenen Mädchens Agnes, einer der Gründerinnen, Tante Lydia, sowie der in Kanada lebenden Daisy. Durch die verschiedenen Perspektiven erhält der Leser ein noch detaillierteres Bild von der puritanischen Theokratie und ihren Gepflogenheiten. Während man im ersten Band noch besonders für das Schicksal der Mägde großes Bedauern empfand, erweitert Atwood hier das Blickfeld der Leser. Totalitäre Regime können nur bestehen, wenn man einzelnen, für die Aufrechterhaltung des Regimes notwendigen, Personen gewisse Privilegien einräumt. Augenscheinlich sind das hier die Ehefrauen und Tanten. Doch ein Unterdrückungsregime bleibt im Kern eben trotz Privilegien genau das: unterdrückend. Die Frauen Gilead´s haben somit ihre traurigen, schmerzhaften und dramatischen Schicksale gemeinsam. "Wie konnte ich nur so schlecht, so grausam, so dumm gewesen sein, wirst du dich fragen. Du hättest solche Dinge niemals getan! Aber du selbst wirst niemals die Notwendigkeit dazu gehabt haben." Besonders die Erzählperspektive Tante Lydias fand ich wahnsinnig spannend. Dank dieser erfährt man einiges über die Entstehung des Regimes und wie die Gesellschaft schrittweise umgekrempelt wurde. An diese Stelle muss ich unbedingt erwähnen, dass Atwood, wie sie auch selbst in der Danksagung schreibt, nur Dinge in ihrer Geschichte geschehen lässt, die in der Realität bereits ähnlich schon geschehen sind. Es ist unglaublich beeindruckend wie viel historisches Wissen der Handlung zugrunde liegt. Die Szenen in denen Lydia über die Massenexekutionen und die psychischen Spielchen der Funktionäre Gilead´s berichtet, sind unfassbar vielschichtig. An diesen Stellen wird deutlich klar nach welchen Mustern auf Angst, Zwang und Ideologie basierende Regime agieren, und wie schnell sich die Moral der Menschen verschiebt, wenn sich dadurch für sie Vorteile erzielen lassen. Dieser Weg vom vermeintlich "Richtigen" zum moralisch verwerflichen, wird anhand Lydias Laufbahn von der fairen Richterin zur hinterlistigen Tante beindruckend nachgezeichnet. "Die Zeuginnen" hat mich, wie auch schon der Vorgängerband, staunend und begeistert zurückgelassen. Ein sprachgewaltige, kritische Gesellschaftsstudie verpackt in einen spannenden Pageturner. Für mich ein absolut gelungener Abschluss der Dystopie!

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