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gwyn

Posted on 30.3.2020

«Ich denke daran, wie Scott und seine Freunde die Verbindung der Chips zu den LongLife-Servern gekappt habe, nur, um ein bisschen mehr Freiheit zu haben.» Ein Jugendbuch, eine Dystopie in der nahen Zukunft, ein Thriller, eine coming-of-age-Story. Die Geschichte spielt in einem unbenannten Land mit Wohlfühlcharakter, denn jeder Mensch wird mit einem Chip implementiert, dem «LongLife-Chip». Seit dieser Erfindung ist die Volksgesundheit vakant gestiegen. Denn der Chip registriert die Mentaldaten eines jeden Bürgers. Jeden Morgen hält man einen Scanner auf die Brust, Orange auf der Anzeige bedeutet: Leichte Infektion, erforderliche Medikamente werden vorgeschlagen. Rot bedeutet Gefahr, der Krankenwagen fährt unverzüglich los. Bei Grün ist alles in Ordnung, man erfährt auch, ob man genügend Schlaf hatte. Alle Daten werden an das Gesundheitszentrum weitergeleitet. Schnellt plötzlich tagsüber die Herzfrequenz in die Höhe, wird sofort abgecheckt, ob dieser Zustand bedrohlich sein kann und Entsprechendes in die Wege geleitet. Kam noch ein Mensch stribt am Herzinfarkt oder Gehirnschlag. Natürlich ist eine Ortung der Person damit inbegriffen, auf die auch Behörden zugreifen können. Das hat den Vorteil, dass es kaum noch Verbrechen gibt. Schlägereien werden sofort erfasst, Einbrüche, Raubüberfälle können ausgewertet werden: Wer befand sich vor Ort und wessen Herzfrequenz war zu dem Zeitpunkt erhöht? Ebenso können Eltern, Lehrer und die Behörden den Chip nutzen: Wer hält sich wo auf? Für Kinder kann man die Bewegungsfreiheit einschränken, Örtlichkeiten sperren: Versucht ein Kind den häuslichen Garten zu verlassen, enthält es kleine, unangenehme Stromstöße, die es nicht weitergehen lässt. Das geschieht alles zu deiner Sicherheit. «Beim Frühstück herrscht bleiernes Schweigen. Wahrscheinlich denkt jeder von uns über die entscheidenden nächsten Stunden nach, denn heute spricht das Gericht das Urteil über meinen Bruder.» Der Roman ist in drei Abschnitte eingeteilt, es wird jeweils aus der Ichperspektive berichtet. Im ersten Teil lernen wir Stan kennen. Stans Bruder Scott wurde verhaftet. Er ist der Kopf der Bewegung «Vront», Jugendliche, die sich gegen die Totalüberwachung wehren wollen, Hacker, die es schaffen, sich für eine gewisse Zeit dem Netz zu entziehen. Leider wird Scott zu sechs Monaten Haft verurteilt, Stan ist entsetzt. Es gibt noch eine Einspruchsmöglichkeit. Gleichzeitig ist Stan neugierig, will herausbekommen, was sein großer Bruder mit seinen Freunden im Geheimen so alles anstellt, wie sie es schaffen, sich dem Netz zu entziehen. Er ist auch stolz auf Scott. In diesem ersten Drittel versucht Stan mit seinem Freund hinter die Bewegung Vront zu kommen, zwei zarte Teeny-Liebesgeschichten entwickeln sich hier parallel. Der Roman ist für das Alter ab 14 Jahren vom Verlag Mixtvision empfohlen. Na ja, dachte ich bis dahin, ich tendiere zu 12-14. Schleppend bewegte sich die Story vorwärts, mir fehlte hier Spannung. Im Nachhinein betrachtet, kann man sich die ersten 195 Seiten sparen, da sie nicht zielführend sind. Wahrscheinlich wird man auf diesem Weg einige Leser verlieren. Aber es lohnt sich, weiterzulesen. Auf Seite 197 berichtet nun Scott wie es dazu kam, dass er vor Gericht stehen musste, und ab dem Midpoint geht die spannende Geschichte nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis weiter. Knastleben ist kein Zuckerschlecken, für seinen Schutz muss man zahlen und irgendwann muss man entscheiden, auf welcher Seite man steht. Mehr verrate ich hierzu nicht. Am Ende des Buchs kommen noch ein paar andere kurze Ich-Perspektiven hinzu. Auch wird nun klar, warum das Buch ab 14 Jahren empfohlen wird. «Ich lehne mich schon sehr lange gegen LongLife auf, seit früherer Kindheit an … Mit fünf oder sechs Jahren habe ich geglaubt, dass es irgendwo dort oben in den Wolken ein allmächtiges Wesen gibt, Das mich rund um die Uhr bewacht. Von ihm kamen die S1, wenn ich auf dem Gehweg zu schnell rannte. Es hinderte mich auch daran, meinen Ball zu holen, wenn er über den Zaun geflogen war.» Die Geschichte ist spannend, ohne Frage. Doch was ist die Message? Die verliert sich für mich in der Mitte des Buchs in der Thrillerstory. Gut und Böse sind klar definiert. Der Staat ist gut, trotz seiner Macht. Das war mir ein wenig zu flach. Wer Macht über die Software hat, kann Menschen Leid zufügen, ihre Herzfrequenz auf 200 steuern: Herzinfarkt, tot. Das System kann Menschen lokalisieren, sie mit Stromschlägen traktieren, sie «festsetzen». Gleichzeitig ist es angreifbar, obendrein auf mehrere Wege. Verbrecher machen sich dies zunutze. Vront kämpft gegen die Totalüberwachung: Die Jugendlichen möchten Freiheit haben, schaffen es, für kurze Zeit Überwachungskameras und die Überwachung kleinerer Orte auszuschalten, teilweise ihre eigene Überwachung außer Betrieb zu setzen. Sie treffen sich in der Nacht, büchsen von zu Hause aus, feiern kleine Partys, ohne erwischt zu werden. Was mich an diesem Roman stört, ist die Tatsache, dass nur Jugendliche an der Überwachung Anstoß nehmen. Die Erwachsenen sehen darin mehr Nutzen als Schaden. Der gute Staat wird überrascht von der Erkenntnis, dass sein System zu knacken ist. Diese Darstellung klingt hochnaiv. Ich dachte, der Autor wollte darauf hinaus, zu erklären, wie ein Staat solche Macht missbrauchen kann, davor warnen, sich je auf ein solches System einzulassen, die Risiken aufdecken. Da werden mentale Daten jeden Morgen ausgelesen und das war es schon? Ist es wirklich so einfach? Er beschreibt, wozu dieses System fähig ist, aber es wird nur auf der Seite von Verbrechern als bösartig beschrieben. Die Bösen wohnen in bestimmten Stadtteilen, haben böse und stechende Blicke … … Hier wird jede Menge stigmatisiert. Dieser Roman ist mir zu einfach in Gut und Böse aufgegliedert, die wichtigen Zwischentöne fehlen gänzlich, weiterführende Gedanken. Mit China gibt es doch die beste Vorlage. Einmal wird kurz angedeutet, wie der Staat agiert: Bei einer Demo krümmen sich plötzlich Teilnehmer, übergeben sich, andere fallen vor Schmerzen zu Boden: Stromstöße. Mir war das zu wenig für einen Roman mit solch einem hochkarätigen Thema. Der Verlag wirbt mit «Rebellion gegen das System» – na, wenn das Rebellion ist … Immerhin hilft es, darüber nachzudenken, inwieweit angebliche Sicherheit die Freiheit des Einzelnen beschneidet. Spannend ist das Buch ab Seite 197 – denn erst hier beginnt die Story wirklich. Ich kann dem Buch nur ein inhaltliches unteres Mittelmaß abgewinnen, im Thema Spannung kann es punkten. Yves Grevet wurde 1961 in Paris geboren. Nach dem Abschluss seines Studiums verbrachte er zwei Jahre in Ankara, um anschließend in Frankreich als Lehrer zu arbeiten. Bis heute hat Yves Grevet zwölf Bücher veröffentlicht. Seine dystopische Romantrilogie «Méto» wurde in Frankreich innerhalb kürzester Zeit zum Bestseller und in Deutschland unter anderem für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

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